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Karl Olsberg: Fanfiction – Fluch oder Segen für die Buchbranche?

Karl Olsberg: Fanfiction – Fluch oder Segen für die Buchbranche?

Die Kontroverse um künstlich verlängerte Lieferzeiten und Diskriminierung der Bücher von Verlagen, die sich den Konditionsforderungen von Amazon nicht beugen, scheint aus dem Graben zwischen der „alten“ und der „neuen“ Bücherwelt eine Schlucht gemacht zu haben. In der Buchbranche hat ein unseliges Lagerdenken um sich gegriffen, auch bei vielen Autoren.

Die einen protestieren in einer doppelseitigen Anzeige in der New York Times gegen Amazons Machtspiele, die anderen mobilisieren in sozialen Medien eine Gegenbewegung für die „Freiheit“. Klar scheint: Man ist entweder etablierter Verlagsautor oder Selfpublisher. Man ist entweder für oder gegen Verlage und traditionellen Buchhandel, und diese Entscheidung definiert im Umkehrschluss, ob man für oder gegen Amazon ist.

Dieses Schwarzweißdenken verkennt nicht nur die Komplexität des zugrundeliegenden Problems. Sie missachtet auch die Chancen, die sich für beide Seiten durch die wachsende Pluralität der Literaturwelt ergeben. Am Beispiel der Fanfiction kann man das gut verdeutlichen.

Der Begriff Fanfiction für Geschichten, die in einem literarischen Kosmos spielen, den jemand anderes als der Autor definiert hat, ist noch relativ jung. Doch das Grundprinzip gibt es vermutlich schon so lange, wie es Literatur gibt. Bereits die griechischen Sagen basierten auf einer mündlich überlieferten fantastischen Welt mit bekannten Figuren wie Zeus und Hades. Homer musste seinen Lesern nicht mehr erklären, wer Poseidon ist. Das machte es für ihn leichter, eine spannende Geschichte zu erzählen, und für die Leser oder Zuhörer einfacher, sie zu verstehen. Auch Shakespeare und Goethe haben bekannte Geschichten aufgegriffen, neu erzählt und um eigene Aspekte ergänzt.

Niemand würde auf die Idee kommen, Goethes „Faust“ Fanfiction zu nennen. Der Begriff Fan assoziiert Amateurhaftigkeit und Ideenlosigkeit. Ein Fan ist im allgemeinen Sprachgebrauch eben gerade das Gegenteil eines Künstlers – ein Nachläufer, der den wahren Autor, Musiker oder Fußballstar bewundert, weil er selber nicht zu echter kreativer Leistung in der Lage ist und deshalb sein Vorbild bestenfalls ungeschickt imitiert.

Doch diese begriffliche Herabwürdigung eines literarischen Massenphänomens wird dessen Bedeutung nicht gerecht. Wikipedia, Linux und andere Opensource-Projekte haben längst bewiesen, dass eine Masse von engagierten Amateuren mehr leisten kann als jede noch so gut ausgestattete professionelle Organisation. Amateurvideos auf Youtube erreichen höhere Einschaltquoten als Top-Spielfilme zur Primetime im Fernsehen. Auch wenn die große Masse der Amateurprodukte nach klassischen Kriterien ebenso „Schund“ ist wie die meisten unverlangt eingesandten Manuskripte, so finden sich doch reichlich Perlen darunter. Nicht zuletzt haben viele erfolgreiche Autoren einmal mit Fanfiction angefangen, so etwa die Shades-of-Grey-Autorin E.L.James. Ich selbst habe im zarten Alter von elf Jahren meine erste Fanfiction-Geschichte geschrieben, angesiedelt im Perry Rhodan-Universum.

Die meisten Leser wissen nicht, in welchem Verlag das Buch erschienen ist, das sie zuletzt gelesen haben, wohl aber, warum sie es gekauft haben. Verlagsmarken spielen offensichtlich bei der Buchauswahl eine untergeordnete Rolle, von Ausnahmen abgesehen. Was bewegt sie dann? Autorennamen sicherlich, aber noch wichtiger sind „Welten“, in denen sich die Leser zuhause fühlen. Das können vage und weitläufige Kosmen sein wie etwa „Fantasy“ oder „Vampirromane“, in denen bestimmte allgemein akzeptierte Regeln gelten, es aber durchaus regionale Unterschiede gibt. Noch stärkere Anziehungskraft haben jedoch sehr konkrete Welten mit bekannten Figuren und Hintergründen, Harry Potter zum Beispiel oder die Welt Panem. Der Vorteil für die Leser ist, dass sie sich in diesen Welten leichter zurechtfinden. Sie bewegen sich auf vertrautem Terrain, das sie lieb gewonnen haben wie das Zuhause ihrer Kindheit oder das kleine gallische Dorf. Je konkreter die literarische Welt ist und je genauer die Leser sie kennen, desto größer ist dieses Heimatgefühl, verbunden mit einer Vorfreude auf die nächste Geschichte, die dort spielt.

Die Chance für Autoren und die ganze Buchbranche liegt auf der Hand: Die Nachfrage nach Literatur, die diese Lesererwartungen erfüllt, ist enorm. Fans sind Vielleser. Fanfiction-Autoren können schnell eine große Leserschaft erreichen, solange sie ihr Genre ernst nehmen und ihr Handwerk einigermaßen beherrschen.

Doch abgesehen vom schlechten Image der Fanfiction sind es vor allem rechtliche Grauzonen, die etablierte Verlage und Autoren abschrecken. Viele Autoren und Verlage verteidigen ihre literarischen Welten gegen „Trittbrettfahrer“, manche verfolgen jede unautorisierte Nutzung geschützter Begriffe erbarmungslos, andere tolerieren sie zähneknirschend.

Manche Markenrechtsinhaber sind da etwas entspannter. Die kleine schwedische Firma Mojang, die mit Minecraft das meistverkaufte Computerspiel aller Zeiten geschaffen hat, veröffentlicht auf ihrer Website in lockerer Umgangssprache formulierte Regeln für den Umgang mit ihren Marken [https://account.mojang.com/documents/brand_guidelines]. Wer sich daran hält, darf Bilder und Begriffe aus dem Spiel in künstlerischen Werken verwenden. Youtube-Amateure wie der deutsche „Gronkh“ oder die englische Gruppe „The Yogscast“ sind mit Videos reich geworden, in denen sie nichts anderes tun als Minecraft zu spielen. Im englischsprachigen Raum gibt es eine Flut von selbstpublizierten Minecraft-Geschichten. Ich selbst habe mit meinen Minecraft-Romanen „Würfelwelt“ und „Zurück in die Würfelwelt“ jeweils Platz zwei der Amazon-Bestsellerliste erreicht.

Ist es die Großzügigkeit des Erfolges, die Mojang veranlasst, solchen „Rechtsmissbrauch“ zu tolerieren? Oder ist die entspannte Haltung gerade der Grund für den riesigen Erfolg? Vieles spricht für Letzteres. Ohne die permanente kostenlose Werbung durch Youtube-Amateure wäre ein Spiel, für das niemals auch nur ein Euro in Marketing investiert worden ist, wohl kaum so populär. Allein der Youtuber Gronkh hat über 1.200 Minecraft-Videos veröffentlicht, das allererste haben inzwischen über zehn Millionen Menschen gesehen. Minecraft ist nicht trotz, sondern wegen hunderttausender „Trittbrettfahrer“ so erfolgreich.

Das Beispiel verdeutlicht, dass Fanfiction gerade für etablierte literarische Welten eine enorme Chance darstellt. Es gibt beispielsweise auf fanfiction.net fast 700.000 Fanfiction-Beiträge, die im Harry Potter-Universum spielen. Kaum einer dürfte an die Qualität von Rowlings Geschichten heranreichen. Trotzdem habe ich nie verstanden, warum ihre Plattform „Pottermore“ diese enorme Fanenergie nicht für sich nutzt und die Geschichten dort einbindet.

Fanfiction kann sogar Zielgruppen erreichen, die sonst um Bücher einen weiten Bogen machen. Meine Minecraft-Bücher werden vor allem von Jungen zwischen zwölf und fünfzehn Jahren gelesen, die als besonders lesefaul gelten. Ich habe viele begeisterte Feedbacks von Eltern erhalten, deren Söhne zum ersten Mal freiwillig ein Buch in die Hand genommen haben.

Mein Aufruf an meine Autorenkollegen und an die Verlage lautet: Begreift und nutzt Fanfiction als Chance! Schafft literarische Welten, die offen sind für jeden, der sich daran beteiligen möchte. Verachtet Fanfiction nicht als Machwerke ideenloser Nachahmer, sondern als Spielwiese, auf der neue Talente ihre ersten Gehversuche unternehmen. Und nehmt diese Genres ernst – wenn man gute Fanfiction schreiben will, muss man zuallererst selber Fan sein.

Spätestens jetzt sollte klar sein, dass etablierte Autoren und Selfpublisher nicht in zwei verfeindeten Lagern stehen, sondern voneinander profitieren können – sofern man sie überhaupt voneinander trennen kann. Ich zum Beispiel gehöre beiden Parteien an. Ich werde weiterhin in etablierten Verlagen publizieren, aber ich werde auch weiterhin Fanfiction schreiben und die Chancen des Selfpublishing dafür nutzen. Ich nehme mir das Recht heraus, öffentlich gegen Amazons ungebührliche Verhandlungspraktiken zu protestieren; mein Name steht neben neunhundert anderen auf der Liste in der New York Times-Anzeige. Trotzdem werde ich auch in Zukunft das Kindle Direct Publishing-Programm nutzen, jedoch gleichzeitig nach Wegen zu suchen, wie auch der traditionelle Buchhandel von Fanfiction und Selfpublishing profitieren kann. Dazu in Kürze mehr.

Karl Olsberg, bürgerlich Dr. Karl-Ludwig von Wendt, ist hauptberuflich Unternehmensberater und Trainer und beschäftigt sich mit dem digitalen Wandel in der Medien- und Handelswelt. Sein Debütroman „Das System“ wurde für den Kurd-Laßwitz-Preis nominiert und erreichte die SPIEGEL-Bestsellerliste. Zuletzt ist sein Roman „Delete“ im Berlin Verlag erschienen.

Im Rahmen der von der Self-Publishing-Plattform epubli initiierten Konferenz „Rewrite the Web“ am 2. Oktober in Berlin hält Karl Olsberg einen Vortrag über Fanfiction. Auf der Konferenz diskutieren Autorinnen, Agenten, Bloggerinnen und Digital-Innovatoren darüber, wie in Zukunft Bücher publiziert, vermarktet und gelesen werden.

Die Idee hinter Rewrite the Web (#RtW14) ist es, den Dunstkreis der Buchbranche zu verlassen, um neue Impulse aus ganz unterschiedlichen Perspektiven und Disziplinen zu bekommen. Dazu hat epubli entschlossene Vordenker und kreative Macher an Bord geholt, darunter Patrick Brown (Goodreads), Anna Theil (Startnext), Sebastian Matthes (Huffington Post), Karla Paul (Hoffmann und Campe), Niklas Jansen (Blinkist), Jürgen Hopfgartner (Axel Springer Ventures), Matthias Müller (Rocket Internet) und Cat Noone (Liberio).

Kommentare

4 Kommentare zu "Karl Olsberg: Fanfiction – Fluch oder Segen für die Buchbranche?"

  1. „Geschichten, die in einem literarischen Kosmos spielen, den jemand anderes als der Autor definiert hat“ – Und ich dachte, dass per definitionem bei Fanfiction der Kosmos durch den Autor definiert ist und der Fan darin weiter“spinnt“?

    • Gemeint ist mit „Autor“ der Urheber der Fanfiction, nicht der des Originalwerks (sofern es sich um Fanfiction zu Literatur handelt).

  2. „Geschichten, die in einem literarischen Kosmos spielen, den jemand anderes als der Autor definiert hat“ – Und ich dachte, dass per definitionem bei Fanfiction der Kosmos durch den Autor definiert ist und der Fan darin weiter“spinnt“?

    • Gemeint ist mit „Autor“ der Urheber der Fanfiction, nicht der des Originalwerks (sofern es sich um Fanfiction zu Literatur handelt).

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