Im letzten Beitrag habe ich darauf hingewiesen, dass man die richtigen Fehler machen soll. Doch auch ein „richtiger“ Fehler kann einer zu viel sein. Gibt es so etwas wie eine optimale Fehler- bzw. Flopquote? Ja. Und sie ist höher, als die meisten glauben.
In den Achtzigerjahren erforschte der Berliner Professor Ingo Rechenberg, wie sich Evolutionsprinzipien auf die technische Entwicklung übertragen lassen. Beispielsweise „mutierte“ er zufällig Rohrkrümmungen und Flugzeugtragflächen, um durch Versuch und Irrtum schrittweise Formen zu finden, die sich optimal den komplexen Strömungsverhältnissen anpassten. Dabei fand er ungewöhnliche Formen, die bessere Ergebnisse lieferten als alle auf herkömmlichem Wege konstruierten.
Er entdeckte aber noch einen weiteren Zusammenhang: Je größer die Schrittweite der Veränderung einer Mutation, desto größer war die Wahrscheinlichkeit, dass die Mutation ein schlechteres Ergebnis lieferte als die Ausgangsform – also ein „Flop“ war.
Andererseits näherte man sich mit größerer Schrittweite dem optimalen Ergebnis schneller an, der Fortschritt beschleunigte sich also. Abhängig davon, wie viele Mutationen pro Runde entstanden und wie nah man bereits am Optimum war, gab es eine „optimale“ Schrittweite. Und dieser Schrittweite war auch jeweils eine Misserfolgsquote bzw. Flopquote zugeordnet, die in den allermeisten Fällen bei etwa 80% lag. Rechenberg nennt das die „goldene Regel“ der Evolutionsstrategien: Die Fortschrittsgeschwindigkeit ist maximal, wenn vier von fünf Versuchen schief gehen.
Der Professor selbst regte an, zu prüfen, ob man diese goldene Regel auf das Management von Innovationen übertragen kann. Ein Blick auf die Wirtschaftsrealität legt nahe, dass es tatsächlich einen Zusammenhang gibt:
- Etwa 80% der im Lebensmittelhandel neu eingeführten Produkte verschwinden innerhalb eines Jahres wieder aus den Regalen.
- Venture Capital-Investoren glauben, dass ihr Portfolio optimal aufgestellt ist, wenn etwa 10%-20% der Start ups überleben – wäre der Wert höher, hätten sie zu vorsichtig investiert und die Chance auf das nächste Google oder Facebook wahrscheinlich verpasst.
- Auch im Buchmarkt sind es nur 10%-20% der Titel, die echte Verkaufsrenner sind und den Rest des Programms „mitziehen“ müssen.
Auf den ersten Blick erscheint eine Flopquote von 80% zu hoch, um „vernünftig“ zu sein. Ist es nicht gerade das Ziel aller Investitions- und Programmpolitik, teure Fehlschläge zu vermeiden? Aber das überaus erfolgreiche Innovationsprogramm der Natur zeigt uns jeden Tag aufs Neue, dass nur mit einer hohen Fehlerquote wirklich ungewöhnliche Lösungen gefunden und alle Chancen eines Lebensraums genutzt werden können. Das gilt natürlich nur dann, wenn wir tatsächlich nicht vorher wissen können, ob eine Investition erfolgreich wird oder nicht.
Gerade in Zeiten des Umbruchs brauchen wir eine Menge Mut. Dieser Mut muss uns nicht nur helfen, nötige Veränderungen auf uns zu nehmen. Er muss uns auch in die Lage versetzen, Fehler bewusst in Kauf zu nehmen – und zwar in einem durchaus schmerzhaften, aber dennoch heilsamen Umfang, der dazu führt, dass die weitaus meisten unserer Experimente schief gehen. Nur dann lernen wir schnell genug.
Warum das gerade den erfolgreichen Unternehmen besonders schwer fällt, darauf möchte ich in einem folgenden Beitrag eingehen, der sich mit dem „Dilemma des Innovators“ beschäftigen wird.
Karl-Ludwig von Wendt studierte Betriebswirtschaftslehre und promovierte über künstliche Intelligenz. Er hat neun Jahre Erfahrung als Unternehmensberater mit dem Schwerpunkt Online-Transformation im Handel und in der Telekommunikation. Zwölf Jahre war er Unternehmer in der New Economy, wo er zwei Start ups gründete und u.a. mit dem eConomy-Award der Wirtschaftswoche für das “Start up des Jahres” ausgezeichnet wurde. Als Karl Olsberg schreibt er Thriller, Jugend- und Sachbücher. Im Januar 2012 gründete er die briends gmbh, die Verlage insbesondere bei der Entwicklung von Contentmarken sowie Social Writing unterstützt.
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