Die Berliner Buchtage 2015, Nachlese aus der Außenperspektive
Ach, die Buchwelt ist kompliziert. Und besonders kompliziert scheint alles, was auch nur entfernt mit Digitalisierung und E-Books zu tun hat. Große Branchenereignisse wie die Berliner Buchtage tragen wenig zur Übersichtlichkeit bei. Eher im Gegenteil, die Signale aus Berlin sind, um es milde auszudrücken, widersprüchlich.
Erstens, und auf den ersten Blick beruhigend, ist der Buchhandel jetzt hochoffiziell an die Spitze der Digitalisierung gerückt. Wie uns der Vorstand in Berlin versichert, gestaltet der Buchhandel die Digitalisierung aktiv mit. Nach einer entsprechenden Mahnung immerhin des Bundeswirtschaftsministers will man sich im Börsenverein jetzt auch nicht mehr klein machen. Unser Börsenverein ganz groß und in der Pole-Position der Digitalisierung, wer hätte das gedacht?
Zweitens, so steht es in Publikationen des Börsenvereins zu lesen, beträgt der Anteil der E-Book-Umsätze im Publikumsbereich 2014 so ca. 4,3 Prozent. Nein, kein Tippfehler, das Komma ist schon da, wo es hingehört. Digitale Zukunftshoffnungen hin oder her, ein Anteil von 4,3 Prozent nach Jahren der E-Book-Vermarktung provoziert dann schon die Frage, warum man in diesem Mini-Markt überhaupt die Pole-Position anstreben sollte – würde man denn an diese Zahlen glauben wollen.
Drittens müssen diese digitalen Produkte aber schon irgendwie mit der wirtschaftlichen Zukunft der Buchwelt zu tun haben. Nur verstehen das (nach deren mutmaßlicher Eigeneinschätzung) eben nur wenige Auserwählte unserer Branche. So macht sich die AKEP-Spitze in Berlin schlimmste Sorgen, dass man vielleicht zu schnell vorandenken könnte. Schließlich muss der lahme Rest unserer Branche ja irgendwie mitgenommen werden in die strahlende digitale AKEP-Zukunft. Merkwürdig nur, dass die AKEP-Tagung in Berlin bleiben wird, während wir fußkranken Digitalnormalos im kommenden Jahr nach Leipzig ziehen werden. Mit verschiedenen Tagungsorten wird sie nicht einfacher werden, die digitale Mitnehmerei. Man müsste sich glatt Sorgen machen um den Transfer innovativer Ideen, wäre denn der AKEP jemals als Lieferant ebensolcher auffällig geworden.
Viertens hat der Börsenverein in Berlin auf Vorschlag des Vorstandes eine Strukturreform beschlossen, um für die großen Herausforderungen nicht zuletzt der digitalen Zukunft gerüstet zu sein. Sicherlich ein wichtiger und richtiger Schritt, allein das Endziel der Reform ist nicht so recht erkennbar. Das mag in der Natur eines „iterativen Prozesses“ liegen, und formalrechtlich ist das sicherlich alles in bester Ordnung. Aber ein wenig angst und bang kann es einem schon werden, angesichts der Machtfülle, die das „Steuerungsteam Hauptamt“ da für sich reklamiert. Man hört ja eher selten davon, dass Machtfülle zu transparenteren Prozessen und zu Innovationen führt.
Fünftens ließe sich die Aufzählung der verwirrenden Signale noch ziemlich lange fortsetzen: Gegenwart und Zukunft von VlB oder Libreka wären beispielsweise immer für eine Sottise gut. Über die drei Sparten des Verbands könnte ein wenig spekuliert werden oder über die sich im Laufe der letzten Jahre sehr schön wandelnden Statements zum DRM.
Aber so unterhaltsam ein wenig Nabelschau auch sein mag, kommen wir nun zur Außenwelt und da auch gleich zur Sicht der Kunden. „Kunden“, dies nur zur Erinnerung, das sind die Leute, die Verlage und Handel und Buchtage und letztlich sogar Strukturreformen finanzieren. Spricht man also zum Beispiel mit wichtigen Buchhandelskunden wie Hochschul-Bibliothekaren, dann berichten die davon, dass sie bereits heute rund 50% ihrer Anschaffungsetats für E-Books ausgeben, und dass sich die E-Anteile der Zeitschriften den 80% nähern. Andere Datenbasis und besondere Kundengruppe, gewiss, aber irgendwie wollen solche Angaben nicht zu den 4,3 Prozent des Börsenvereins passen.
Soweit Verlagszahlen bekannt sind, liegen deren E-Anteile je nach Programmsegment bei zehn bis zwölf Prozent, in einzelnen Bereichen bereits bei weit über einem Drittel des Neuerscheinungsumsatzes. Eine einfache Faustregel: Je stärker technisch oder wirtschaftlich und für Fortbildung und Lehre ausgerichtet, um so grösser ist der E-Book-Anteil. Bei der Belletristik läuft die Kurve sicherlich flacher, allerdings berichtet u.a. Bookwire von Steigerungsraten und Anteilen, die sich deutlich von den Börsenvereins-/GfK-Zahlen unterscheiden.
Irgendwas stimmt also nicht mit den Berliner Prämissen. Man muss für solche Einsichten aber gar nicht bis in die Hochschulen gehen oder Verlagsvorschauen akribisch auszählen oder Umsätze hochrechnen. Es reicht völlig, hin und wieder Bus oder Bahn zu fahren, denn da sieht man sie in erstaunlich großer Zahl, diese Kunden für E-Books. Nach persönlicher Beobachtung daddeln zwar gut drei Viertel der U-Bahn-Mitfahrer auf dem Smartphone rum, aber in jeder Bahn sitzen auch Menschen mit Tablet oder Reader und lesen. Wirklich wahr!
Diese Beobachtungen könnte man jetzt als empirisch-deduktive Methode bezeichnen und der ganzen Sache den Namen E-Book-U-Bahn-Axiom verpassen. Mit ein paar hinterlegten Formeln lassen sich bequem jeweils gewünschte Anteile errechnen und viel wackliger als die offiziös publizierten E-Book-Zahlen kann das Ergebnis gar nicht sein. Aber bevor nun eine Heerschar von Anwälten losspurtet, hier schnell der Verweis auf den Satirecharakter dieses Absatzes.
Tatsächlich sollte man es mit der Realsatire nicht übertreiben. Denn letztlich geht es um ein ernstes Anliegen, nämlich um die Zukunftsfähigkeit der Buchbranche und die Zukunft der engagierten, oft idealistischen Menschen, die in dieser Branche arbeiten.
Denen tut man keinen Gefallen mit Annahmen, die nicht stimmen können. Wenn dann auch noch „iterative“ Strukturreformen auf so unsicheren Annahmen beruhen sollten, dann gäbe es ganz massiv Anlass zur Sorge.
Es lässt sich per Dreisatz sehr einfach errechnen, dass weiterhin steigende E-Book-Umsatzanteile der Verlage und weiterhin minimale E-Book-Umsatzanteile des stationären Handels in ein paar Jahren zu massiven Verschiebungen der heutigen Rollenverteilung führen werden – noch viel massiver, als wir es in den letzten zehn Jahren erlebt haben. Vermutlich ist diese Entwicklung gar nicht aufzuhalten. Vermutlich wird diese Entwicklung den noch vorhandenen Grundkonsens der drei Sparten erodieren lassen. Vermutlich ist unsere Branche in wenigen Jahren eine ganz andere als die, die wir heute kennen und in der wir gerne arbeiten.
Solche Entwicklungen sollten auf Veranstaltungen wie den Buchtagen diskutiert werden. Buchhändler (und Verleger), die über Investitionen und Mietverträge und Arbeitsplätze und letztlich über Lebenspläne entscheiden müssen, müssen über harte Fakten informiert werden, damit sie realistische Entscheidungen treffen können, mögen die auch noch so unbequem sein. Daran fehlte es in den widersprüchlichen Statements der Buchtage.
Das Problem liegt dabei sicherlich nicht bei den Ehrenamtlichen, im Gegenteil. Deren Engagement für unsere Branche kann man gar nicht genug bewundern. Gleichwohl, der Börsenverein schuldet seinen Mitgliedern verlässliche Informationen über Zahlen, Pläne und Strukturen. Die wurden in Berlin nicht geliefert.
Karlheinz Höfner hat sein gesamtes Berufsleben in der Buchbranche verbracht. Zuletzt war er für viele Jahre Vertriebsleiter bei Oldenbourg. Er ist seit 2013 selbständig und hat sich als Verlagsberater auf die Themen Hosting und Vermarktung digitaler Inhalte spezialisiert. Höfner sieht sich als „unbelehrbaren“ Anhänger der gewachsenen Verlags- und Handelsstrukturen und als „Überzeugungstäter“ bei der Überführung tradierter Buchkultur in die digitalen Märkte.
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