Die Kinderbuch-Autorin Kirsten Boie macht sich Sorgen über die zunehmende Zahl an Kindern, die nicht lesen können. In einem Beitrag für die Wochenzeitung „Die Zeit“ (für Digital-Abonnenten) berichtet sie über ihre Erfahrungen an Grundschulen – und zeigt auf, was sich im Bildungssystem ändern muss.
Boie thematisiert als zentrales Problem, dass Lesenlernen massiv von der sozialen Herkunft abhänge: Wenn sie an Grundschulen in Stadtteilen mit höheren Einkommen vorlese, „sitzen da Kinder mit vor Spannung roten Wangen und offenen Mündern. Sie fragen nach, fiebern mit“. Ganz anders dagegen seien die Reaktionen an Schulen, die in sozialen Brennpunkten liegen bzw. in Bezirken mit einem hohen Anteil an Kindern mit Migrationshintergrund, wo die Schüler „oft nur aus Höflichkeit zuhören“. „Das klingt diskriminierend? Das ist die Realität“, meint Boie, die angesichts der rund 19% funktionalen Analphabeten unter den Kindern einen Aufschrei vermisst und Fragen aufwirft nach den gesellschaftlichen Konsequenzen: „Können diese Kinder später einmal allein für ihren Lebensunterhalt und den ihrer eigenen Kinder aufkommen? Was kostet es ein Land wie Deutschland, wenn fast ein Fünftel derer, die das Schulsystem bis zum Ende der Grundschulzeit durchlaufen haben, nicht ausreichend lesen kann?“
In ihrem Beitrag kritisiert Boie vor allem die Versäumnisse in der Bildungspolitik. Da die Politik nicht genug in die frühen Jahre investiere, müsse sie damit rechnen, dass die vermeintlich eingesparten Kosten später um ein Vielfaches höher seien, wenn aus den Kindern Erwachsene werden, die über Jahrzehnte hinweg staatliche Unterstützung bräuchten. „Und wenn Politiker jetzt protestieren und aufzählen, was sie schon alles für das Lesen getan haben? Dann tun sie das. Aber offensichtlich reicht es nicht aus! Denn sonst müssten wir davon ausgehen, dass fast ein Fünftel unserer Kinder schlicht zu dumm ist, um lesen zu lernen. Ich bin gespannt, wer es wagt, so zu argumentieren.“
Anstatt dass Grundschüler Programmieren lernen, wie Dorothee Bär, Staatsministerin für Digitalisierung, gefordert hat, sollten nach Meinung von Boie die Schulen den Kindern stärker die Fähigkeit des so genannten „deep reading“ vermitteln: „Aus den angelsächsischen Ländern kennen wir Programme, mit denen Schulen das deep reading fördern wollen. Verpflichtende Lektüren für die Ferienzeit; Leserallyes, bei denen die Kinder eine bestimmte Mindestzahl von Büchern lesen müssen und mit anderen Klassen in Wettbewerb treten; die Verpflichtung, auch in Fächern wie Geografie, Biologie, Ethik oder Geschichte zu jeder Unterrichtseinheit ein frei gewähltes Buch zu lesen und zu erklären, was es mit dem Thema zu tun hat.“
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