SPIEGEL Online nimmt sich jede Woche den wichtigsten Neueinsteiger, Aufsteiger oder den höchstplatzierten Titel der SPIEGEL-Bestsellerliste vor – im Literatur-Pingpong zwischen Maren Keller und Sebastian Hammelehle. Den Anfang macht standesgemäß die neue Nummer eins: Sebastian Fitzeks Thriller „Passagier 23“.
Hammelehle: Ich habe von Sebastian Fitzek kein einziges Buch gelesen, wenn ich seinen Namen höre aber sofort ein ungutes Gefühl. Zu Recht?
Keller: Zu absolutem Unrecht! Fitzek ist einer der professionellsten und handwerklich zuverlässigsten Thriller-Autoren in Deutschland. Ach so, und einer der brutalsten. Dafür kriegt man vielleicht keine Literaturpreise. Aber Respekt sollte man dafür trotzdem bekommen.
Hammelehle: Respekt? So weit kommt’s noch. Um was geht es denn in „Passagier 23“ überhaupt?
Keller: Um das Phänomen der verschwundenen Passagiere: jedes Jahr gehen einige Dutzend Passagiere während Kreuzfahrten von Bord. Das heißt: genau genommen geht es in diesem Buch um einen wieder aufgetauchten Passagier. Natürlich ein kleines Mädchen mit einem düsteren Geheimnis, das versteht sich nach allen Gesetzen des Genres wohl von selbst!
Hammelehle: Und das soll ich lesen?
Keller: Gegenfrage: Was macht Literatur für dich spannend?
Hammelehle: Gut beschriebene Atmosphäre, menschliche Abgründe, alle Simenon-Krimis sind toll. Aber bitte nicht diese sprachlich plumpen, schlicht gebauten Stapelware-Krimis im Stil von Jussi Adler Olsen und Stieg Larsson.
Keller: Zugegebenermaßen solltest du das Buch vielleicht eher nicht lesen, auch wenn ich es statt schlicht gebaut solide gebaut nennen würde.
Hammelehle: Wem würdest du das Buch denn sonst empfehlen?
Keller: Definitiv nur Lesern, die nicht allein in einem knarzenden Haus mitten im Wald leben. Und auch nur solchen, die keine Skrupel vor Seichtem haben. Fitzek lesen ist schon ein bisschen wie abends zum Abschalten Fernsehen gucken. Nur besser als die meisten Sendungen.
Hammelehle: Also ich schau nur die „Sportschau“ und die „Tagesthemen“. Meinst du das Nachmittagsprogramm von RTL2?
Keller: Okay, ich nehme den Fernsehvergleich zurück. Es hat was von Badewanne: vielleicht nur seicht, aber trotzdem lieben es die meisten Menschen, darin abzutauchen.
Hammelehle: Da wir uns hier im Feuilleton befinden: Sagt es irgendwas über unser Land aus, dass dieses Buch jetzt auf Platz eins der Bestellerliste steht?
Keller: Vielleicht, dass die Deutschen zur Entspannung zwei Dinge besonders lieben (jetzt Mal abgesehen von der schönen Tradition des Feierabendbiers): Kreuzfahrten und Thriller. Man könnte natürlich auch genauso gut Statistiken lesen, um das rauszufinden. Aber „Passagier 23“ ist da doch deutlich kurzweiliger.
Hammelehle: Muss mir der Erfolg dieses Buchs Angst machen?
Keller: Angst vor was? Vor dem Autor? Ist wahrscheinlich ein durchschnittlich netter und langweiliger Mitmensch. Vor den Lesern? Wahrscheinlich liest auch deine friedliebende Yoga-Lehrerin abends gern mal Thriller. Oder Angst um die Lage der Literatur?
Hammelehle: Ich mache kein Yoga. Und die Literatur überlebt auch noch Sebastian Fitzek.
Maren Keller ist Kulturredakteurin beim KulturSpiegel. Ihre Lieblingsromanfigur ist gerade Ethan Figman aus Meg Wolitzers „Die Interessanten“. Und außerdem möchte sie bald möglichst nach Georgien reisen, seit sie Nino Haratischwilis großartigen Roman „Das achte Leben“ gelesen hat. Zuletzt rezensierte sie auf SPIEGEL ONLINE Jon Bauers Roman „Steine im Bauch“.
Sebastian Hammelehle ist Kulturredakteur bei SPIEGEL ONLINE. Zu den Büchern, die er seit Jahren lesen möchte, zählen Bruce Chatwins „Traumpfade“, „Die Sorge geht über den Fluß“ von Hans Blumenberg und „Der Hund der Baskervilles“ von Arthur Conan Doyle. Zuletzt schrieb er auf SPIEGEL ONLINE über Patrick Modianos „Gräser der Nacht“.
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