In der Serie „Mein Schreibtisch“ stellen uns Autorinnen und Autoren ihre Arbeitsplätze vor. Diesmal zeigt Autorin Raynor Winn ihren Schreibtisch.
Jedes Buch, das ich geschrieben habe, scheint seinen eigenen Platz zu haben. Das erste schrieb ich auf der Ecke der Küchen-Arbeitsfläche, das zweite in einem Sessel – im Grunde schrieb ich immer dort, wo ich einen ruhigen Platz fand. Aber nun hat mein jüngstes Buch zum ersten Mal ein eigenes Zimmer. Ich bin in einen winzigen Raum gezogen, der früher als Abstellkammer diente. Eigentlich ist es immer noch eine Abstellkammer. Ich habe einen Tisch und einen Stuhl so nah wie möglich ans Fenster gerückt, und hinter mir lagern Bücherkisten, Mäntel und Rucksäcke.
Ich schreibe jedoch nicht an einem Schreibtisch. Es ist der alte Küchentisch aus dem Haus meiner Eltern. Als Kind warf ich Decken über den Tisch und baute Höhlen daraus, als Jugendliche machte ich dort meine Hausaufgaben. Mein Vater hat den Tisch mehrfach repariert und schließlich eine Resopalplatte auf das gesplitterte Holz geklebt, um meiner Mutter eine glatte Oberfläche zur Verfügung zu stellen, auf der sie ihre Pasteten ausrollen konnte. Der Tisch wackelt ein wenig, wenn ich zu viel Druck ausübe, und ich vermute, dass er bald wieder repariert werden muss.
Ich teile den Tisch mit meinem Ehemann Moth, der ihn für seine Arbeit als Landschaftsgestalter benutzt oder wenn er Pläne für die kommende Apfelernte macht. Folgerichtig liegen seine Ausrüstung und Stifte auf dem Tisch, eine Tischlampe dient uns als Lichtquelle, da die Deckenbeleuchtung neu verdrahtet werden muss. Aber das ist nicht tragisch, denn ich brauche nicht viel Platz. Ich versuche zwar, meine Arbeit zu strukturieren und handschriftlich festzuhalten, aber das funktioniert nicht. Meine Gedanken fließen für gewöhnlich so schnell, dass ich direkt am Bildschirm arbeite und dort umschreibe, daher muss ich nur irgendwo einen Laptop aufstellen.
Der Tisch steht direkt am Fenster, das traurigerweise klemmt und nicht zu öffnen ist. Ich kann auch nicht viel sehen, da die Dichtung der Doppelverglasung porös geworden ist und sich Feuchtigkeit zwischen die zwei Glasschichten gesetzt hat. An den Rändern der Dunstflecken vorbei kann ich in die kornische Landschaft und in einen Obstgarten blicken, der zu einem gezeitenabhängigen Bach hinabführt, und an manchen Tagen, wie heute, komme ich in einen besonderen Genuss durch die mit Kondenswasser bedeckten Fenster: Heute sind drei Spechte, die ihr Nest das erste Mal verlassen haben, auf dem Telefonmast am Haus gelandet. Schrecklich unsicher, vertrauen sie der Kraft ihrer Flügel noch nicht und klammern sich seit Stunden an dem Pfosten fest. Selbstbewusst laufen sie ihn rauf und runter, aber noch sind sie nicht bereit, das Risiko eines weiteren Flugversuchs einzugehen. Wie an vielen Tagen habe ich heute kaum etwas geschrieben und jede Menge Tee getrunken, während ich Vögel beobachte.
Raynor WinnIn „Der Salzpfad“, erschienen im Dumont Reiseverlag, schildert Raynor Winn ihre entbehrungsreiche und gleichzeitig inspirierende Wanderung entlang des South West Coast Path, mit rund 1000 km der längste ausgeschilderte Fernwanderweg Großbritanniens. Ausschlaggebend für diese Reise war der Verlust ihrer Farm in Wales, die sie gemeinsam mit ihrem Ehemann Moth bewirtschaftete. Kurz darauf erhielt dieser auch noch die Nachricht, dass er an einer unheilbaren neurodegenerativen Krankheit leidet. Entgegen dem Rat der Ärzte machte sich das Paar auf den Weg. Mittlerweile bringen es Paperback- und Taschenbuchausgabe (Goldmann) gemeinsam auf mehr als 150 Wochen auf der SPIEGEL-Bestsellerliste. Der Nachfolger „Wilde Stille“ knüpfte an diesen Erfolg an. Im Oktober erscheint Raynor Winns neues Buch „Überland“, ebenfalls beim Dumont Reiseverlag.
Auszeichnungen
- Shortlist Wainwright Prize, Kategorie Nature Writing
- RSL Christopher Bland Prize
- Shortlist Costa Book Awards, Kategorie Biographie
- Shortlist Wainwright Prize, Kategorie Biographie
Bestseller
Titel (ET-Monat) bester Platz
Wilde Stille (10/2021) 4
Der Salzpfad (12/2020) 1
Quelle: SPIEGEL-Bestseller
Aus dem Englischen von Daniela Zielberg
Raynor Winn – im buchreport.magazin 9/2022
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