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Leseförderung braucht Funkensprüher

Das Schulsystem operiert mit Lehrmethoden, die aus grauer Vorzeit stammen und Erkenntnisse aus der Hirnforschung nicht berücksichtigen, kritisiert der Hirnforscher Gerald Hüther (Foto: Franziska Hüther). Die Annahme, dass es mehr oder weniger Begabte gebe, sei wissenschaftlich nicht zu halten. Statt Kinder über Noten zu klassifizieren, sollten Schulen bei Kindern Begeisterung für das Lernen wecken. Auf den Buchmarkt übertragen heißt das: Verlage sollten stärker auf Leseförderung setzen – auf der diesjährigen Jahrestagung der Arbeitsgemeinschaft von Jugendbuchverlagen (avj) in Berlin legte Hüther den Verlegern ans Herz, über Leseförderung die Begeis­terung für Bücher zu wecken. 

Der folgende Text ist ein Auszug aus einem größeren Interview im buchreport.magazin 8/2012 (hier zu bestellen). Die Ausgabe enthält einen fast 30-seitigen Schwerpunkt zum Thema „Lernen & Wissen“.
Wie kann man Kinder für Bücher begeistern?
Ganz einfach: Indem man selbst von Bü­chern begeistert ist und den Funken der Begeisterung auf das Kind überspringen 
lässt. Begeisterung ist ein Gefühl. Das heißt, wenn wir wollen, dass Kinder etwas lernen bzw. eine neue Verschaltung im Gehirn aufbauen, müssen wir dieses Gefühl wecken. Wir müssen das, was wir uns wünschen, emotional aufladen. Im vorigen Jahrhundert haben wir versucht, dieses Gefühl mit Belohnung und Bestrafung zu wecken. Das Ergebnis: Kinder lernen zwar zu lesen, aber sie haben keine Lust drauf. 
Jetzt ist diese Strategie obsolet. Eine der ältesten Lehrmethoden ist das Vorbild der erwachsenen Menschen, zu denen Kinder eine emotionale Beziehung haben. Wenn eine dem Kind nahestehende Person gern liest, dann lesen die Kinder auch gern. Aber dazu müsste man Eltern haben, die selbst begeisterte Leser sind. Und vielleicht liegt dort das eigentliche Defizit. Das Lesen von Büchern müsste mit einem positiven Gefühl gekoppelt werden. 
Welche Rolle spielt das Vorlesen? 
Wenn die Eltern begeistert lesen, ist es ihnen ein inneres Bedürfnis, den Kindern etwas vorzulesen. Durch die Interaktion und die Nähe zum Vorleser werden Bücher emotional aufgeladen, die Begeisterung für das Lesen steckt die Kinder an. Setzt man ein Kind dagegen vor eine Audio-CD, fehlt die emotionale Nähe zur Bezugsperson. Und dann ist es oft nur die Geschichte, aber nicht das Lesen, was die Kinder begeistert.  
Ein anderes Beispiel ist das Singen: Kinder singen von Natur aus unglaublich gern. Das beste Mittel, ihnen das abzugewöhnen, besteht darin, dass man ihnen CDs vorspielt, wo Kinder mit feinsten Stimmen genau die richtigen Töne treffen. Das Ergebnis: Den Kindern bleibt das Lied im Hals stecken, weil sie es nicht so singen können, wie es ihnen vorgespielt wurde. Das ist entmutigend.
Es geht nicht darum, besonders gut vor­lesen zu können. Es geht darum, die eigene Begeisterung für das Lesen von Büchern auf das Kind zu übertragen.
Steht auch die Buchbranche in der Pflicht?
In der Pflicht ist niemand. Doch es gibt viele Möglichkeiten, Kinder für das Lesen zu begeistern und emotionale Erfahrungen mit Büchern zu fördern. 
In Erfurt gibt es zum Beispiel eine Bibliothek, die einfach jedes Kind zum Lesen bringt. Die Bibliothekare dienen quasi als Funkensprüher der Lesebegeisterung und stecken Tag für Tag mehr Kinder an. Es gibt sogar einen Preis für denjenigen, dem es gelungen ist, ein Kind zum Lesen zu bringen und sich ein Buch auszuleihen. Solche Projekte könnten die Verlage unterstützen.
Auch wenn auf den ersten Blick der Verleih von Büchern über Bibliotheken nicht ihr vorderstes Interesse ist. Hier sollten die Buchverlage einfach langfristiger denken.
Text und Interview: Lucy Kivelip
Zur Person: Prof. Dr. Gerald Hüther 
zählt zu den bekanntesten Hirnforschern Deutschlands. Er leitet die Zentralstelle für neurobiologische Präventionsforschung der psychiatrischen Universitätsklinik Göttingen und des Instituts für Public Health der Universität Mannheim/Heidelberg. Er schreibt Sachbücher, hält Vorträge, organisiert Kongresse und arbeitet als Berater für Politiker und Unternehmer. 

Kommentare

6 Kommentare zu "Leseförderung braucht Funkensprüher"

  1. VeröffentlichenHeute | 13. September 2012 um 16:48 | Antworten

    Ein spannendes Forschungsfeld und eine überzeugende Argumentation. Vielen Dank für den Artikel. Wir beschäftigen uns seit einiger Zeit mit dem Bereich der Wahrnehmung/Wirkung/Wertschätzung von Medien in Abhängigkeit von ihrer Darreichungsform. Kurz: Lesen und verstehen wir schneller oder lieber auf unterschiedlichen Informationsträgern. In diesem Zusammenhang war auch der Ansatz von Herrn Hüther spannend. Weitere Forschungsansätze zum Thema haben wir kürzlich auf dem Blog http://www.veroeffentlichen-heute.de zusammengefasst. Wer mag, hier geht’s zum Artikel: http://ow.ly/dGz8I

  2. Meine Eltern waren und sind begeisterte Leser. Mein Patenonkel hat mir zum Geburtstag meistens Bücher geschenkt, von denen auch mein Vater mir oft vorgeschwärmt hat. Trotzdem war ich das absolute Gegenteil einer Leseratte. Ich hatte dazu einfach keine Lust, ich konnte es schlecht und mir fehlte die Geduld.. Bis ich 13 oder 14 Jahre alt war hatte ich 2 Bücher gelesen, deren Titel ich immer noch weiß, und die mich gefesselt hatten. Richtige Lust am Lesen habe ich erst als junger Erwachsener bekommen. Einfach so und mit einem guten Deutsch / Literatur-Lehrer.
    Damit will ich sagen, daß die Lösung leider nicht so einfach ist, wie es Herr Prof. Dr. Hüther schreibt.
    Zum Sngen könnte ich noch einen extra Aufsatz schreiben. Nur soviel: durch zuviel Hören von Lieder-CDs wird den Kindern die von Natur gegebene hohe Stimmlage „versaut“, weil viele „Kinder-Songs“ viel zu tief gesungen werden…

  3. Leseprojekt: „In 80 Tagen gelesen“ mit einer Klasse Sonderschülern der 2.-7. Schulstufe am Schuljahresende 2008 war päd. ein voller Erfolg- die kids verzichteten freiwillig auf die Pause! Leider hat der unfähige Bezirksschulinspektor G.Wlaschitz alles zerstört (mit 2stündiger Schreierei: „De soll’n was schreiben!“
    Geschriebenes ist beurteilbar und somit auch die Arbeit des Lehrers!!
    Das war mein letzter Schultag.

  4. Die Lesebegeisterung zu wecken ist unser Aufgab als Erw. beim Kind.
    Und das heißt für uns für die Kinder lesen, lesen .lesen……

  5. Die Begeisterung fürs Lesen zu wecken, wäre ein großartige Aufgabe für Schulbibliotheken als Zentren der Leseförderung. Die vergleichsweise niedrige Quote der Schüler bei PISA, die ungerne lesen, ist das große deutsche Problem. Leider steht aber das Training für die Lesekompetenztests der PISA-Industrie (Informationsentnahme aus Texten) im Vordergrund. Wer nicht gern liest, dem fällt auch Informationsentnahme aus Texten und Tabellen schwer.
    In England gibt es Leseclunbs an Schulen, in denen Lehrer mitdiskutieren, gibt es „silent reading“ und viele andere Aktionen. Die Schulinspektion OFSTED bewertet die Leseförderprogramme der Schulen.

  6. genauso ist es!!! Als Lesementorin erlebe ich gerade wie bereichend es für mich ist, einem 8-jährigen Jungen die Lust am Lesen zu vermitteln … er ist so begeistert, dass er nach nur 2 Stunden bereits seinen jüngeren Geschwistern vorliest … und um den Artikel zu ergänzen: nicht nur die Lust am Lesen gilt es zu wecken … die Lust am Lernen generell oder wie wär’s mit der Lust am Leben!!!

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