Guido Graf und Daniel Acksteiner über Social Reading
Mehr als Marketinginstrument, Quasselbude oder Troll-Spielplatz
Social Reading bei Sobooks.
Welche Perspektive hat die gemeinschaftliche Lektüre digitaler Texte? Wie groß ist das Potenzial an Schulen und Hochschulen? Haben kleinere Social Reading-Anbieter eine Chance im Vergleich zu Amazon & Co.? Guido Graf (Autor, Journalist, Hochschuldozent) und Daniel Acksteiner (Leitung Online-Marketing & Social Media beim Suhrkamp Verlag) im Interview mit Daniel Lenz.
Acksteiner und Graf diskutieren im „Orbanism Space“ auf der Frankfurter Buchmesse gemeinsam mit dem Autor Clemens J. Setz, dem Journalisten Jan Drees und Sobooks-Mitgründer Christoph Kappes am Mittwoch, 14.10.2015, 15 Uhr, über Social Reading. Hier das gesamte Programm.
Social Reading hat sich in den vergangenen Jahren schwer getan, zumindest im Mainstream, man denke an die Aufgabe von Readmill. Und das, obwohl Lesen von Beginn an eine zutiefst soziale Tätigkeit war. Was sind die Ursachen?
Guido Graf: Ich glaube nicht, dass die Diagnose stimmt. Schwer hat sich, etwa bei Readmill, ein Geschäftsmodell getan. Das hat vor allem damit zu tun, dass es das Social Reading nicht gibt. Es funktioniert da, wo der Kontext stimmt. Dieser Kontext wird durch viele verschiedene Faktoren bestimmt: Das Buch oder der Text sind von Bedeutung. Gibt es eine aktuelle gesellschaftliche, politische, kulturelle Relevanz? Besitzt der Autor eine Attraktion, die für viele Menschen oder eben auch nur für eine bestimmte, möglicherweise ganz kleine Gruppe von Leuten? Und man muss die Perspektive auch umdrehen: Wenn wir davon ausgehen, dass sich bei den meisten Menschen die Medienpraxis in Bezug auf Lesen und Schreiben durch die digitale Transformation verändert, reicht es eben nicht aus, „nur“ auf das Objekt Buch zu schauen, sondern auch auf die Perspektive derjenigen, die wir bislang unter „Leser“ eingeordnet haben. Dann tauchen nämlich auch noch ganz andere Fragen auf.
Welche?
Graf: Wer etwa hat ein Interesse, Social-Reading-Funktionen überhaupt zu nutzen, also einen Text zu kommentieren und nah am Text mit anderen zu diskutieren? Ist es vielleicht wichtig, daneben noch weitere Kommunikationsvoraussetzungen und -möglichkeiten zu haben? Ist es wichtig, diese „anderen“ zu kennen? Solche Fragen und die Tatsache, dass sie noch nicht beantwortet wurden, haben und hatten für Readmill, Sobooks, SocialBook, log.os und diverse weitere Anbieter mehr dann immer zur Konsequenz, dass Funktionalitäten entwickelt werden, die in einem vorgedachten Modell zwar schlüssig erscheinen, in der Wildnis der praktischen Realität an vielen kleinen Ecken und Kanten dann aber doch Unzulänglichkeiten erweisen. Weil es eben nicht die Lösung zum Social Reading für alle gibt und geben kann. Open Source wäre hier auch ein Weg, um diesen Entwicklungsprozess flexibler zu gestalten.
Daniel Acksteiner: Ganz entscheidend in diesem Zusammenhang ist natürlich die Rolle der Autoren und Verlage: Es muss geeignete Texte geben, inhaltlich und rechtlich.
Graf: Aus dieser Perspektive verständlich, aber diese Perspektive ist eben eine von mehreren. Flexibilität bedeutet hier, das Neben- und Miteinander der unterschiedlichen Interessen zuzulassen. Das dürfte auch aus ökonomischer Sicht unerlässlich sein, um etwa neue Geschäftsmodelle entwickeln zu können. Das wird, wenn man etwa allein auf dem (urheber-) rechtlichen Status Quo beharrt, nicht möglich sein. Umgekehrt muss man aber auch Lösungen finden, die es erlauben, bestehende Rechtslösungen nicht gleich in den Orkus werfen zu müssen. Das wird sich auch an der ästhetischen Gestalt von Texten beweisen, aber ganz sicher nicht ursächlich. Die sozialen, rechtlichen und ökonomischen Konzepte von Lesen und Schreiben waren und sind immer abhängig von bestimmten medialen Dispositionen.
Auch im Social Reading herrscht Amazon vor, seit der Übernahme der vielleicht größte Buch-Community Goodreads. Welche Perspektiven haben kleine Anbieter wie Sobooks oder log.os?
Graf: Goodreads und lovelybooks repräsentieren in Bezug auf Social Reading etwas vollkommen anderes als das, was bei Sobooks oder log.os eine Rolle spielt. Bei den großen Communities geht es darum zu zeigen, was man gelesen hat, es geht um Ranking und um Empfehlungen. Die andere Variante, die mir tatsächlich eher die Bezeichnung Social Reading verdient, ist näher am Text, bzw. geht vom Text aus, in ihn hinein, kommentiert, diskutiert. Entsprechend unterschiedlich sind auch die Perspektiven …
Acksteiner: Bei LovelyBooks gibt es durchaus auch Angebote, bei denen das gemeinsame Lesen und der Austausch über den – vornehmlich unterhaltenden – Text im Fokus steht. Letztlich ist beiden Varianten gemein, dass man zeigt, was man liest. Das führt zu der grundsätzlichen Entscheidung: Will ich mein intimes Lesevergnügen/-verhalten (öffentlich) sichtbar machen? Ich stelle mir daher schon die Frage, ob bestimmte Texte nicht fürs Social Reading geeignet sind bzw. ob eine bestimmt Leserschaft bestimmter Texte schlicht kein Interesse an einem derartigen Austausch hat.
Graf: Nur entscheidet sich dieses Interesse meines Erachtens nicht an der Intimität, denn die ist immer eine relative, sozial konnotierte Größe. Vielmehr ist das Interesse eben ein wechselseitiges: Es gibt Texte, die etwa über Aktualität und Identifikation Diskussionsanreize bieten, aber auch solche, die das durch Widerspruch erreichen. Die Schnittmengen zwischen Text und Leserschaft können da sehr verschieden sein, quantitativ wie qualitativ.
Acksteiner: Zu Goodreads sei anzumerken, dass das aktuelle Defizit der Website in der Sprache der Website besteht – allein bezogen auf deutschsprachige Literatur: Auch wenn diese dort vertreten ist und bewertet wird, so möge man sich einmal die Zahlen von „Kruso“, dem Roman des Buchpreisträgers Lutz Seiler, anschauen und diese mit David Vanns „Die Unermesslichkeit“ (Originaltitel: „Caribou Island“) vergleichen. So lange Goodreads keine reine deutschsprachige Version der Website anbietet, ist diese Plattform für Leserinnen und Leser sowie für Verlage im Hinblick auf deutschsprachige Literatur wenig interessant, selbstverständlich aber für fremdsprachige.
Graf: … Spannend werden sicher die Entwicklungen sein, die diese beiden Sphären miteinander zu kombinieren versuchen. Das textnahe oder textbasierte Social Reading wird aber auch ohnehin eine größere Selbstverständlichkeit bekommen, aber eben deutlich abhängig davon, wie sich die Medienpraxis des Lesens und Schreibens weiter entwickelt. Viele der gegenwärtig schon genutzten Technologien wären uns vor gar nicht so langer Zeit als mindestens merkwürdig, wenn nicht utopisch vorgekommen.
Sie denken an Tablets, E-Book-Reader und Smartphones?
Graf: Ja, und die sind, da muss man kein Prophet sein, sicher nicht das Ende der Entwicklung. Vieles spricht dafür, dass wir mit einer Koexistenz verschiedener, also analoger und digitaler Medien leben werden. Um dem Rechnung zu tragen, sind natürlich auch Entwicklungen gut vorstellbar, die etwa analoges und elektronischen Lesen und Schreiben integrieren. Weiterhin werden die Perspektiven auch stark davon abhängen, wie die rechtlichen und ökonomischen Bedingungen dieser Medienpraxis angepasst werden.
Acksteiner: Interessant wird sein, ob sich dann auch die Literatur verändert. Wird es Formate geben, die explizit fürs Social Reading geschrieben werden?
Graf: Wenn wir unseren Begriff der Konvention Literatur (wie auch davon, was Social Reading als Komplex von Lesen und Schreiben tatsächlich sein kann) ein wenig erweitern, gibt es diese Format ja bereits: bei Twitter, Facebook, mehr noch in den Fan Fiction-Foren oder bei Wattpad.
Was fehlt, um Social Reading zum Durchbruch zu verhelfen?
Graf: Da es das Social Reading, wie beschrieben, meiner Auffassung nach, gar nicht gibt, bedarf es auch keines Durchbruchs. Wie sollte so etwas aussehen? Jeder Imperativ, der sich auch noch mit Zukunftsprognosen verknüpft, ist entweder ideologisch oder naiv (oder beides). Social Reading, verstanden als gemeinsames und gemeinschaftliches Lesen und Schreiben von Literatur, von Büchern und Texten, mit denen man sich und anderen die Welt ausbuchstabiert, kann dafür, wie literarische Kommunikation, das Gespräch über Bücher, gerade auch das kritische Geschäft, viel bieten. Das ist aber nur in einem Umfeld möglich, das dafür die Voraussetzungen bietet …
Acksteiner: Social Reading bedeutet für Sie auch gemeinsames und gemeinschaftliches Schreiben? Sollte dann nicht besser ein weniger konkreter Begriff gefunden werden?
Graf: Wäre vermutlich nicht verkehrt. Aber Begriffe definieren sich über ihren Gebrauch. In Deutschland sagt man ja auch zum Smartphone „Handy”. – Social Reading gab und gibt es ja schon lange und an vielen Orten und in vielen Kontexten. Man hat es nur nicht so genannt. Philipp Felsch hat in seinem Buch über die Anfänge des Merve-Verlags („Der lange Sommer der Theorie“, C.H. Beck, 2015) erzählt, wie am Anfang dieses Verlagsprojekts eine Gruppe von Leuten über fünf Jahre hin „Anti-Ödipus“ von Gilles Deleuze und Felix Guattari gelesen haben. Satz für Satz wurde das Buch gelesen, befragt und diskutiert. Bis irgendwann jemand aus der Gruppe auf die Idee kam, eine Kamera mitzubringen, und den Lesekreis zu filmen. Da war es schlagartig vorbei. Das hatte nicht nur etwas mit Privatsphäre und sozialem Zusammenhalt zu tun, sondern auch mit einem Medienbruch. Merve hat weitergemacht und sich entwickelt und eben auch immer wieder verändert. Nicht als Absage, sondern als Konsequenz. Wenn Verlage als wichtige Akteure im literarischen Feld aus solchen Kommunikationsprozessen lernen, kann auch Social Reading eine wichtige Rolle spielen. Dieses Lernen kann zu neuen Verlags- und Geschäftsmodellen führen. Auch hier wäre Open Source wieder ein wichtiges Stichwort. Im buchreport hat Leander Wattig gerade zum Thema Urheberrecht ein paar wichtige Stichworte geliefert.
Welche Beispiele haben Sie vor Augen?
Graf: Es gibt mittlerweile ja auch die sehr aktiven Portale, die soziales Lesen und Schreiben kombinieren und damit etwa für die Fanfiction- oder Selfpublisher-Szene hochattraktiv sind, wie Wattpad oder Amazons WriteOn, oder auch das kanadische Projekt Sumbola, das sich als Plattform für Autoren, Leser, aber auch für Lektoren, Redakteure, Illustratoren oder Übersetzer versteht. Transmediale Tools und Inhalte (Musik, Bilder, Videos, Links, Twitter-Feeds, Umfragen und Abstimmungen etc.). Leser, auch das ein sehr wichtiger Baustein, können miteinander direkt in Kontakt treten. Die Macher sprechen in diesem Zusammenhang von „Communities of Shared Interest“ und das ist in der Tat eine gute Beschreibung der sozial definierten Schnittmengen, um die es beim Social Reading nur geht.
Acksteiner: Jedoch funktionieren bei den genannten erfolgreichen oder erfolgsversprechenden Projekten bestimmte Genres (besser), andere gar nicht.
Graf: Zweifellos. Aber das betrifft eben nicht nur Genres, sondern auch diejenigen, die sich austauschen. Je klarer der Kontext des Social Reading definiert ist – also über ein Genre, die Gruppe der Teilnehmer, ihr Alter, Geschlecht, ihre Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe (in der Schule etwa), usw. –, desto einfacher wird die Kommunikation in diesem Kontext. Ansonsten kann man sich auch leicht eine hinsichtlich ihrer Quantität überschaubare Gemeinschaft wie die der jüngeren deutschsprachigen Gegenwartslyrik, wie sie sich in Verlagen wie kookbooks repräsentiert oder dem Verlagshaus Berlin, Reinecke & Voss, Brueterich Press etc., aber auch mit einigen Online-Plattformen und Zeitschriften, als Social-Reading-Community vorstellen, in der ein Wahlspruch wie der von kookbooks „Poesie als Lebensform“ sehr praktisch wird. Soziales Lesen (und Schreiben) versteht sich so einfach als ein Modus literarischer Kommunikation.
Es hilft, wenn über Social Reading gesprochen wird, nicht alles in einen Topf zu werfen. An viele Stellen wird sozial gelesen und geschrieben, ohne dass es notwendig so bezeichnet wird. Und zu vielen Gelegenheiten wird sich das als ganz alltägliche Praxis noch ergeben – aber eben nicht als Standard. Den braucht es auch nicht. Anfang des Jahres sprach z.B. die Lektorin Katharina Raabe auf der Lektorenkonferenz in Hildesheim über die Dreierbeziehung zwischen Autor, Übersetzer und Lektor. Das ist für einen Social-Reading-Kontext eigentlich schon eine Idealkonstellation und für manche ist das schon in der Praxis angekommen, für viele wird das noch kommen. Bei der Herstellung von Publikationen, an denen viele verschiedene Autorinnen und Übersetzer beteiligt sind, können entsprechende kollaborative Strukturen für den Editions- und Redaktionsprozess sehr hilfreich sein. Autorinnen können, wenn sie das denn wollen, auf diesem Weg leicht mit Lesern kommunizieren, und umgekehrt, und das einer definierten und kontrollierten Umgebung. Social Reading nur als Marketinginstrument, Quasselbude oder Spielplatz für Trolle zu betrachten, verschenkt die Möglichkeiten und erzählt vor allem von selbstbezüglicher Bequemlichkeit.
Acksteiner: Aber es ist, wie das aktuelle Beispiel des „Betreuten Lesens“ von Clemens J. Setz neuem Roman, Die Stunde zwischen Frau und Gitarre (www.frau-und-gitarre.de) zeigt, auch ein Marketinginstrument, weil „social“ dann auch Viralität bedeutet und dies für einen Verlag natürlich nicht uninteressant ist. Social Reading ist dann aber eben auch („nur“) ein Experiment – vor allem ein Ausprobieren des technologischen Status quo. Guido Graf sagte es bereits, das Thema ist extrem mit technologischen Entwicklungen verknüpft: Das Hineinspringen von einem Zitat, das auf einer x-beliebigen Website eingebunden wurde, in das entsprechende Buch, das ich im Webbrowser lesen (und kaufen) kann – egal mit welchem Endgerät – wäre vor einiger Zeit noch undenkbar gewesen. Interessant fände ich übrigens in diesem Kontext, inwieweit ein Zusammenhang zwischen ausgereifterer Technologie und dem Social Reading anspruchsvoller Bücher besteht.
Wie können sich Social-Reading-Angebote gegenüber Social Media-Größen wie Facebook profilieren, in denen Leser ohnehin ihre Eindrücke austauschen – und die selbst sogar Social Reading fördern?
Graf: Facebook bietet, etwa mit der Gruppen-Funktion, schon in hohem Maße, was für das Gelingen sozialer Kommunikation über Literatur erforderlich ist. Davon kann man sich nur abgrenzen, wenn man sich – abgrenzt. D.h. nicht versucht, das Rad neu zu erfinden, das bessere Facebook etc. zu machen, sondern eben etwas anderes, das einen klar definierten Kontext adressiert. Vielen Alternativen mangelt es vor allem an zwei Punkten: 1. Sie sind an einigen und manchmal auch an etlichen kleinen Punkten (die dann eben schnell zu größeren werden können) technisch zu komplex. Bedienungsergonomie, rechtliche Hürden, technologische Abschottung führen zu Schwellen, wo auch selbst für zurückhaltende Nutzer keine sein sollten. 2. Bei Facebook ist immer schon wer da. Eine für den sozialen Aspekt des Social Reading nicht ganz unwichtige Tatsache. Zwar gibt es bei Spezialplattformen immer auch diverse Sharing- und Verknüpfungsfunktionen, nicht aber notwendigerweise die Menschen, mit denen ich außer über Bücher auch sonst über andere Dinge mich austausche. Diesem sogenannten Empty-Room-Problem könnte man also durch entsprechend avancierte Funktionalität begegnen, oder aber auch durch eine klare Definition des Kontextes. Wenn für alle Beteiligten klar ist, warum sie beteiligt sind, beteiligen sie sich auch.
Acksteiner: Sicher, Leserinnen und Leser sind bei Facebook aktiv, und Social Reading Angebote müssen zwingend Social Sharing-Funktionen aufweisen. Auch in den weiteren Punkten bin ich ganz bei Guido Graf.
Zuckerbergs virtueller Buchclub „A Year of Books“ hat mittlerweile übrigens knapp 500.000 Fans. Aber haben Sie sich einmal die letzten „Buchbesprechungen“ angeschaut? Ich frage mich, wem diese ein Gewinn sein sollen.
Einer der Pioniere beim Thema Social Reading, Bob Stein, ist es gelungen, seine Software an Schulen und Unis einzuführen. Wie weit sind Sie an Ihrer Hochschule, Herr Graf?
Graf: Ich habe schon vor ein paar Jahren SocialBook von Bob Stein zusammen mit einer Gruppe von Studierenden unseres Studiengangs „Kreatives Schreiben und Kulturjournalismus” ausprobiert. Wir haben ein Semester lang in einer geschlossenen Gruppe den da gerade erschienenen Roman „Indigo“ von Clemens J. Setz gelesen, online wohlgemerkt. Und das hieß: in der Zeit sind über 2000 Kommentare zum Roman entstanden, die von Kurzbemerkungen des Wohlgefallens oder Unbehagens über Links, Fotos oder Youtube-Videos bis zu ausufernden Diskussionen zu Textstellen oder kleinen Essays reichten. Jede Woche haben wir uns leibhaftig getroffen und im Seminarraum gesprächsweise reflektiert, was wir da machen. Oft entzündeten sich die Diskussionen dann an der Funktionalität und Ergonomie der Software, in die das E-Book eingebettet war. Nicht nur haben wir da ganz nebenbei die klassische Betaphasen-Entwicklung der Software vorangetrieben (und uns währenddessen immer wieder auch mit Bob Stein dazu ausgetauscht), sondern eben auch viel über Möglichkeiten und Grenzen des Social Reading gelernt. Als abschließendes integrierendes Moment haben wir dann am Ende des Semesters das ganze Social Reading gemeinsam mit Clemens Setz analog und live vor 150 Leuten auf der Bühne in einem kleinen Hildesheimer Club umgesetzt. Clemens Setz las ein Kapitel aus „Indigo“, hinter ihm war auf einer Projektion zu sehen, was er las, daneben gab es auch noch eine Twitter-Wall, auf der z.B. neben vielen anderen Kathrin Passig oder Hans Hütt Tweets zum Geschehen absetzten. Und immer da, wo in der SocialBook-Fassung Kommentare waren, wurde der lesende Clemens Setz unterbrochen: Die Seminarteilnehmer waren verteilt im Saal und sprachen über ein Mikrofon die Kommentare ein oder ein Video oder eine Musik wurden kurz eingespielt. Es dauerte nicht lange und Clemens Setz kommentierte sich oder die Kommentare seinerseits, so dass irgendwenn nicht mehr auszumachen war, ob man sich gerade auf einer Lesung, einer Diskussionsrunde, einer Party oder Performance befand. Besser kann Social Reading kaum funktionieren.
Imposant, aber wohl eher exotisch oder?
Graf: Das ist nur ein Beispiel und repräsentiert keinesfalls die gängige Praxis. Das halte ich auch nicht unbedingt für notwendig. Es gibt natürlich zahlreiche Zusammenhänge, in denen hier Verfahren des Social Reading zur Anwendung kommen könnten, etwa wenn eine Kommission eine neue Studienordnung erstellt. Und gerade so ein Beispiel zeigt rasch, wie sich das auch auf andere Felder als nur das universitäre übertragen lässt. Ansonsten versuche ich, Social-Reading-Tools immer wieder in der Lehre einzusetzen, lese aber auch mit Studierenden ein Semester lang das Werk Georges Perecs ganz konventionell auf Papier. Wobei: gerade da wäre, wenn wir uns etwa nur mit einem seiner Bücher beschäftigt hätten, auch ein kollaboratives Weiterschreiben denkbar gewesen. Anders habe ich das zuletzt mit meinem Kollegen Simon Roloff probiert: Wir haben uns im vergangenen Sommer mit David Foster Wallace beschäftigt und ein Lektüreseminar mit einer Schreibwerkstatt kombiniert. Dafür haben die Studierenden auf der Plattform Authorea jede Woche Texte geschrieben, nicht über oder wie Wallace, sondern eigene, die bestimmte von Wallaces Werk abgestoßene Fragen, Konstellationen oder Themen als Ausgangspunkt hatten. Diese Texte wurden ebenfalls online von allen wechselseitig kommentiert, und Ende des Jahres wird – gedruckt auf Papier – das sehr umfangreiche Konvolut als Buch erscheinen.
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