In der Serie „Mein Schreibtisch“ stellen uns Autorinnen und Autoren ihre Arbeitsplätze vor. Diesmal zeigt Takis Würger seine Wirkungsstätte.
Meinen jüngsten Roman habe ich auf einem Hochsitz im Wald geschrieben. Dieser Hochsitz war mein Rückzugsort und mein Arbeitsplatz. Sonst arbeite ich gern in Kaffeehäusern, aber ich hatte in manchen Momenten während der Covid-Pandemie eine nahezu absurde Angst, mich mit dem Virus anzustecken. In dieser Zeit habe ich bei meiner Mutter an der Nordsee gewohnt, in einem kleinen Haus in der Nähe eines Waldes. In diesem Haus konnte ich nicht arbeiten, weil ich das Gefühl hatte, meine Mutter würde ständig um mich herum wieseln, was sie in Wirklichkeit wahrscheinlich gar nicht getan hat.
Ich mag den frühen Morgen zum Arbeiten, wenn der Tag noch unberührt ist, wenn wenig Menschen auf den Beinen sind, dann finde ich die Ruhe zum Schreiben. Manchmal glaube ich, dass ich Schriftsteller bin, weil es mir erlaubt, allein zu bleiben, ohne mich einsam zu fühlen. Weil ich in meiner Geschichte bleiben darf, die sicher und begreifbar ist, und das Chaos der Wirklichkeit für einen Moment, den Moment des Schreibens, in den Hintergrund tritt.
Ich habe mir also jeden Tag eine Kanne heißes Wasser gekocht. Mir einen Filter eingepackt und 19 Gramm äthiopischen Kaffee gemahlen. Dann bin ich in den Wald gegangen und auf meinen Hochsitz geklettert. Dort habe ich mir einen starken Kaffee gefiltert und geschrieben. Anfänglich war es Ende März und noch recht kalt. Ich saß dort auf meinem Hochsitz mit dicker Mütze und kalten Füßen, aber als der Roman ein wenig wuchs, wurde es wärmer. Jeden Morgen ging ich in diesen Wald. Meine Mutter fand das sonderbar, aber ich glaube, es gefiel ihr auch, weil sie diesen Wald als ihren Wald betrachtet.
Es war ein Hochsitz, der abseits der Wege stand. Es kam niemand vorbei, nie. Nur ab und an ein paar Hasen, die über die Wiese hoppelten und besorgt nach oben schauten und mich vielleicht für einen Jäger hielten und nicht ahnen konnten, dass ich nicht auf Hasenjagd war, sondern auf der Suche nach den richtigen Wörtern für meine nächste Geschichte. Als ich den letzten Punkt des Buches setzte, tippte ich ihn mit sonnengewärmten Fingern. Es war Sommer geworden, das Gras auf der Wiese stand kniehoch, dazwischen blühten violette Waldblumen. Die Hasen waren sicher unter diesen Blumen versteckt. Auf der nahen Obstwiese hingen die Äpfel fast schon süß an den Bäumen.
Mittlerweile arbeite ich wieder in Berlin. Der nächste Wald ist eine Stunde von mir entfernt, und ich habe dort keinen Hochsitz gefunden. Aber ein wenig von dem Hochsitzgefühl habe ich versucht, in meiner Kreuzberger Wohnung herzustellen. Mein Schreibtisch besteht aus dickem unbehandelten Zirbenholz. Ich arbeite weiter frühmorgens. Ich trinke noch immer diesen brutal starken Filterkaffee. Nur der Ausblick ist nicht so schön. Ich schaue auf eine Straße. Und ich vermisse die Waldblumen ein wenig und ertappe mich dabei – wenn gerade mal wieder meine Gedanken vom Manuskript abschweifen – wie ich hoffe, dass es meinen Hasenfreunden gut geht.
Takis Würger
Takis Würger, Jahrgang 1985, absolvierte ein Volontariat bei der Münchner „Abendzeitung“ und besuchte die Henri-Nannen-Schule. Als SPIEGEL-Redakteur war er im Ressort Gesellschaft tätig, berichtete u.a. aus Afghanistan, Libyen, Mexiko und der Ukraine. Am St. John’s College (Cambridge) studierte er 2014 Human, Social and Political Science. Würgers literarisches Debüt „Der Club“ wurde für den aspekte-Literaturpreis und für das Lieblingsbuch der Unabhängigen nominiert.
Auszeichnungen (Auswahl)
- Euregio-Schüler-Literaturpreis
- Deutscher Hörbuchpreis (Beste Unterhaltung für „Der Club“)
- Silberschweinpreis (Debütantenpreis der lit.cologne)
Bestseller (Auswahl)
- Unschuld (Penguin, 10/2022) bester SPIEGEL-Platz 34
- Noah. Von einem … (Penguin, 3/2021) bester SPIEGEL-Platz 15
- Stella (Hanser, 1/2019) bester SPIEGEL-Platz 4
- Der Club (Kein & Aber, 2/2017) bester SPIEGEL-Platz 11
Quelle: SPIEGEL-Bestseller Hardcover Belletristik
buchreport.magazin 2/2023
Dieser Beitrag ist zuerst erschienen im buchreport.magazin 2/2023.
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