Sebastian Posth, publishinghurts.de:
Meinem Dafürhalten nach darf die Hardware nicht das Kriterium oder das Korsett sein, in das sich das Sortiment zwängen lassen sollte. Da sind genug andere Hürden, die es zu nehmen gilt. Überspitzt formuliert: Jeder Euro, der seitens des Handels in Tablets und Reader investiert wird, ist ein (an anderer Stelle) verlorener Euro. Wie sollte sich der Handel auf Dauer einen Wettbewerb um das beste (geschlossene) technische System leisten können? – Man braucht keine Branchenlösung für Hardware, auch keine Branchenlösung für Shop-Systeme, digitale Barsortimente oder Auslieferungen. Man braucht einen Branchenkonsens, eine Bewegung gegen ein hartes Digital-Rights-Management. Der Verzicht auf DRM würde alle Grenzen geschlossener Systeme mit einem Mal überwinden lassen und so viel Kreativität freisetzen, die sich in Tools, Lösungen, Marketing- und Verkaufsideen niederschlagen würde. Davon profitierte auch der stationäre Buchhandel. Man muss nicht beständig allen erfolgreichen Modellen hinterherlaufen und sie kopieren wollen. Manchmal hilft es, geplant in eine ganz andere, alternative Richtung zu gehen! Oder wie es ein US-Kollege mit Malcolm Gladwell’s David and Goliath paraphrasiert hat: „One does not necessarily need to defeat the giant. Sometimes running in the opposite direction is a suitable approach.“
René Kohl, Kohlibri (Berlin):
Das Tolino-Konzept hat sich nicht als so offen herausgestellt, wie es kommuniziert wurde – der Zutritt für den Handel ist zwar möglicherweise gewünscht, aber nicht wirklich erkennbar konzipiert. Von daher ist das Ende der Verhandlungen der MVB folgerichtig.
Richtig bleibt aber, dass ein offenes System (und das meint Offenheit als Voraussetzung des Systems in vielerlei Sinne: offen in der Nutzung für die Leser, offen in der Vermarktung durch den gesamten Handel, offen in der Bestückung durch die Verlage) weiterhin nicht auf dem Markt ist. Alle aktuell auf dem Markt angebotenen Lösungen erfüllen in verschiedener Hinsicht nicht den Anspruch der Offenheit.
Die dahinterliegenden Geschäftsmodelle vor allem der Kundenbindungsstrategie (shopseitig) und der Content-Vermarktung (verlagsseitig) gehen von vorneherein in eine andere Richtung.
Von daher bleibt es weiterhin eine mögliche Strategie und wäre dann eben auch ein Alleinstellungsmerkmal, eine wirklich offene Lösung zu entwickeln.
Das Kundenversprechen wäre in etwa: „Hier fährst Du dann gut, wenn Du nicht in zu viele proprietäre Systeme investieren möchtest.“
Eine umfassende Strategie umfaßt etwa folgende Elemente:
- Kein hartes DRM
- E-Book-Formate, die auf auf allen Readern lesbar sind
- E-Book-Konzepte, die nicht per se auf einzelne Anbieter zugeschnitten sind
- Vernünftige Standards, die ein realistisches Maß an Implementierungsaufwand für die Shops mit sich bringen
- Effiziente Distributionswege und -schnittstellen
Wer das umsetzt, wo das umgesetzt werden muß, halte ich noch für völlig ungeklärt. Standardisierungsfragen sind dabei zunächst eher im Verband anzusiedeln, als in der MVB.
Steffen Meier, Eugen Ulmer Verlag (Stuttgart):
Tolino- Allianz… das klingt für die Generation Star Wars nach der anarchischen, idealistischen, hochmotivierten Rebellen-Allianz im Kampf gegen das dunkle Imperium (konkret: die großen amerikanischen Player). Abseits dieser romantisierenden Vorstellung ist das Tolino-Komglomerat keine gemeinnützige Stiftung sondern hat handfeste, auch nachvollziehbare Interessen, die nicht kongruent zu den multipolaren Wunschvorstellungen unserer Buchhandelslandschaft gehen. Das mag man unfein finden, wirtschaftlich nachvollziehbar aber ist es schon, hier handfeste Bedingungen an eine Teilnahme zu knüpfen, die für die jetzigen Tolino-Partner mit hohen Investitionen verbunden war.
Damit hat sich der Ruf nach einer „Branchen-Lösung“, dem einfachsten aller Wege, jetzt also erst einmal erledigt. Aber vielleicht ist das auch gar nicht so schlecht? Wie wäre es einmal mit einer dezentralen Lösung, mit Überlegungen, eher mit Schnittstellen statt mit out-of-the-box-Lösungen zu arbeiten? Hier Gespräche zu führen ist sicher sinnvoll, weniger als im Moment kann kaum herauskommen.
Ein Thema, von Kollege René Kohl angesprochen, steht jedenfalls symptomatisch für die Problematik branchenübergreifender Lösungen: verbindliche Standards. Hand aufs Herz: Wir reden uns seit Jahren die Lippen fusselig über DRM-Verzicht, einheitliche E-Book-Formate. Und damit greife ich nur einige wenige, vor allem Verlage betreffende Aspekte heraus. In öffentlichen Statements ist man sich inhaltlich auch einig. Die Realität spricht aber eine andere Sprache, statt DRM-Verzicht gibt es die GVU, statt einheitlicher Formate ist es die böse Hardware-Industrie, die diese nicht umsetzt (warum auch, ihr macht ja niemand Druck). Mehr Tat statt Lippenbekenntnis wäre hier wie an vielen anderen Stellen wünschenswert.
Vielleicht sollte man auch einmal offen aussprechen, was die jeweiligen Einzel-Interessen sind und wo diese schlicht auch nicht vereinbar sind. Und der Buchhandel wäre auch sicher gut beraten, einmal intensiv darüber nachzudenken, ob das E-Book-Geschäft wirklich für jeden einzelnen Sortimenter wirtschaftlich und intellektuell sinnvoll umsetzbar ist (die Methode „Wasch mich aber mach mich nicht naß“ funkioniert hier eben auch nicht). Der gefühlte Zwang, jeden und alles mitzunehmen, führt doch nur zu einer Nivellierung auf niedrigster Ebene. Damit wird dann keiner zufrieden sein, im Zweifel vor allem der, für den das eigentlich alles gemacht wird: den Kunden.
Susanne Martin, Schiller Buchhandlung (Stuttgart):
Mich überrascht es nicht, dass die Verhandlungen gescheitert sind und ich sehe darin auch kein Versagen der MVB. Im Gegenteil: Wer einem möglichen Partner kaum Mitspracherechte gewähren will, sondern nur abkassieren, der meint es nicht wirklich ernst damit, den unabhängigen Buchhandel mit ins Boot zu nehmen. Mir war von Anfang an nicht wohl bei der Vorstellung, an einer Lösung beteiligt zu sein, bei denen in Hagen, Augsburg und München die Konditionen diktiert werden, noch dazu Konditionen, die nicht wirklich attraktiv waren.
Ich möchte als Buchhandlung die Möglichkeit haben, mein Sortiment zu gestalten und nicht zu einem Produkt gezwungen werden und zu einem Inhalteanbieter. Das ist kein offenes System, für das der unabhängige Buchhandel stehen sollte.
Ich würde mir wünschen, daß die MVB sich nun genügend Zeit für Gespräche mit allen Branchenteilnehmern nimmt, um herauszufinden, was wirklich die Bedürfnisse des unabhängigen Buchhandels sind und daraufhin Angebote entwickelt, die Hand und Fuß haben.
Dieter Dausien, Buchladen am Freiheitsplatz (Hanau):
Dass die Tolino-Gespräche nun geplatzt sind, sehe ich mit einem weinenden und einem lachenden Auge. Wobei das letztere überwiegt. Das Tolino-Projekt hätte für den unabhängigen Buchhandel eine große Chance sein können, aber auch eine große Gefahr: Dafür hätte gesprochen, dass es mit Tolino und Klindle zu einer Zweiteilung des Marktes hätte kommen können (oder noch könnte), die für andere Systeme keinen Raum mehr lässt, sodass es gehießen hätte mitmachen oder ganz aus dem eBook-Geschäft aussteigen. Freilich wäre diese Entwicklung durch die Teilnahme des restlichen Buchhandels am Tolino-System noch befördert worden.
Zum Anderen hielte ich es für ein großes Risiko, sein digitales Wohl und Wehe von diesem einen Partner abhängig zu machen, auf dessen Weiterentwicklung man keinen Einfluss gehabt hätte. Zumal Unternehmen der Größenordnung der Tolino-Partner immer auch unsichere Kantonisten sein können. Wer weiß, welchen Einfluss auf das operative Geschäft die neuen Thalia-Investoren morgen werden nehmen wollen, oder ob sie irgendwann ganz die Lust am Buchgeschäft verlieren. Das Gleiche gilt für Weltbild mit ihrem Hintergrund der kirchlichen Eigentümer. Bei der Telekom hingegen werden ganz andere Räder gedreht, auch hier halte ich es nicht für gesichert, wie konstant das Engagement dort sein wird. Das Scheitern des Oyo stärkt auch nicht gerade das Vertrauen in die strategische Planung von Thalia, ebenso wenig wie die irrationale Flächenexpansion der beiden großen Ketten in den Nullerjahren und die nun folgenden oft gescheiterten Experimente, die überdimensionierten Flächen sinnvoll zu bespielen.
Soviel zur Vergangenheitsbewältigung. Die schwierigere Frage ist natürlich die, wie es nun weitergehen soll. Generell denke ich, sollten wir von der Gerätefixierung wegkommen. Buchhändler werden in absehbarer Zeit nicht zu Hardwarehändlern werden, zumal wenn die Tendenz hin zu mehr Tablets gehen wird. Möglicherweise ist auch die Cloud-Frage nicht so entscheidend. Auch der Download aus dem Reader ist derzeit wohl weniger die übliche Beschaffungsmethode, als über dem PC. Insofern sollten wir damit leben lernen, dass Reader in Elektromärkten und im Internet oder sonstwo gekauft werden, den Kunden aber sehr deutlich machen, dass sie ihre E-Books dennoch bei uns kaufen können. Meiner Beobachtung nach ist einem großen Teil unserer an E-Themen interessierten Kundschaft durchaus daran gelegen, weiter bei uns zu einkaufen – egal, woher sie ihr Gerät haben. Die Onleihe funktioniert ja auch hervorragend, ohne dass die Bibliotheken Geräte verkaufen würden.
Insofern sollten wir die Entwicklung gelassen sehen und nicht nur auf die jeweils neuste Hardware schauen, sondern unseren Kunden gute Download-Angebote machen. Hier sind die Angebote der Barsortimente schon ein guter Ansatz, den es auszubauen gilt, auch was die Möglichkeit des Kaufs oder Downloads in der Buchhandlung angeht. Ob und wo die MVB hier eine Rolle spielen kann, fällt mir derzeit schwer, zu sagen. Ich würde ihr raten, jetzt nicht schon wieder schnell ein neues Konzept zu verkünden, sondern zunächst in Ruhe mit den Marktteilnehmern zu sprechen und deren Bedarfe und Erfordernisse zu ermitteln.
Ohnehin wird das elektronische Lesen m.E. nicht die Dimension annehmen, die ihm in der Vergangenheit schon prognostiziert wurde. Wenn man derzeit sieht, dass der Marktanteil in den USA sich bei ca. 30% zu stagnierebn scheint, dürfte er in Deutschland mittelfristig eher bei 15 bis 20% zu sehen sein. Wobei wir hier stets über den Publikumsmarkt sprechen, im Bereich Fachinformation ergibt sich natürlich ein völlig anderes Bild, aber das hat auch mit Tolino oder Kindle wenig zu tun.
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