Klaus Wagenbach (Foto: Julie August) |
Klaus Wagenbach über die Neuausgabe seines Standardwerkes zu Kafka.
Was muss ein Bildband leisten?
Ein Bildband sollte enthalten: Sämtliche Porträts von Kafka (insgesamt 37) und alle typischen der Familie und der Freunde. Prag als schwierige Heimat. Die Orte der Kindheit und die Orte der Imagination – von Jungborn bis zur Alchimistengasse. Kafkas ‚rayon‘ als Beamter (sein Kontrollgebiet bei der Arbeiter-Unfall-Versicherungsanstalt, d.R.): Das nordböhmische Industriegebiet. Die wichtigen Reisen. Die Wende des Jahres 1912. Der Kampf zwischen Schreiben und Leben, die Frauen, die Handschriften, die Zeichnungen, die Bücher. Das alles aber nicht dem Kalender, sondern den Gewichtungen des Lebens folgend. So ist naturgemäß auch mein Bildband, trotz seiner 700 Abbildungen, nur eine Auswahl aus einer in über 50 Jahren entstandenen Sammlung.
Im Vorwort schreiben Sie, dass es unbefriedigend sei, wenn Bildbände nicht die historische Distanz wahren…
Wird diese Distanz aufgegeben, erhält man entweder einen Bildband mit Pflastersteinen im Gegenlicht oder den Autor in einer falschen Zeit.
Wie können Bilder und Zeitzeugnisse einen Zugang zum literarischen Werk Kafkas ermöglichen?
Das entscheiden die Leser: Wer die Texte eines Autors liebt, möchte irgendwann auch etwas über sein Leben erfahren oder umgekehrt.
Sie zeigen auch Alltagsgegenstände, zum Beispiel Kafkas Schreibmaschine oder Ohropax. Welchen Erkenntnisgewinn bringen solche Devotionalien?
Viel. Es gibt doch sehr verschiedene Mittel, sich vor dem Lärm der Welt zu schützen – Kafka wählte das neueste, nämlich Ohropax. Es gibt verschiedene Arten von Möbeln – Kafka wählte die modernste, von den Deutschen Werkstätten. Der hohe Kragen wurde zu verschiedenen Zeiten aufgegeben – Kafka wählte die früheste. Kafka „müllerte“, war „Naturist“, fuhr Motorrad, beschrieb als erster deutscher Autor die neuen „Aeroplane“, kannte die Dampf- wie die Elektrotechnologie, arbeitete in der frühesten Vorform unserer heutigen Sozialversicherung, kurz: Er war ein Mann der Moderne. Auch das will gezeigt sein.
Heute besitzen Sie die größte Sammlung von Porträts des Schriftstellers. Wie sind Sie zu Ihrem Material gekommen?
Durch Suchen, Archivarbeit, Schenkung, Reisen, Kauf, Geduld.
Sie waren auf der ganzen Welt unterwegs, mit einem Priester in Podiebrad, dem Geburtsort von Kafkas Mutter, verständigten Sie sich gar in lateinischer Sprache. Was war Ihr eigenartigstes Erlebnis?
Einige habe ich im Vorwort des neuen Bildbands erzählt, so weit es die Fotos betraf. Das für mich eigenartigste Erlebnis war die Reise nach Israel, 1956, auf einem rostigen Einwandererschiff, als wahrscheinlich einziger Nichtjude. Der Staat, in den ich kam, war lächerliche acht Jahre alt, wie meiner. Ich blieb dort drei Monate, befragte alle noch lebenden Zeugen – von Max Brod bis Hugo Bergmann – und arbeitete in der Schocken Library in Jerusalem. Es war eine schwierige, unvergessliche Zeit.
Welches Stück Ihrer Sammlung ist Ihnen das kostbarste?
Da kann ich mich schwer entscheiden zwischen dem berühmten „Berliner Portrait“ von 1923 und dem Verlobungsbild mit Felice Bauer aus dem Jahr 1917. Ein lokalpatriotischer Anfall lässt mich das „Berliner Portrait“ wählen, ein rührend kleines Automatenbild aus dem Kaufhaus Wertheim.
Ebenfalls im Mai ist Hartmut Binders Bildbiografie „Kafkas Welt“ erschienen. Ihr Eindruck?
Kenntnisreich, aber verständnislos. Binders Buch erschlägt den Leser mit Details (auch im Wortsinn: drei Kilo): Der Hinweg zum Büro, der Rückweg zum Büro, Haus für Haus. Die entferntesten Personen werden vorgestellt, samt Hotels, in denen er wahrscheinlich übernachtet hätte, wenn er mit diesem Zug gekommen wäre und jener Balkon der richtige sei. Eine gigantische Fleißarbeit, oft nahe an der Satire („Das Portal des Hauses des Hausdoktors“), aber ohne jede Vorstellung von der Person.
Haben Sie sich mit dem Kollegen ausgetauscht?
Oh ja, seit 1973. Ich machte ihm die unveröffentlichten Teile der Milenabriefe ebenso zugänglich wie die Protokolle meiner Interviews mit Zeitzeugen, schließlich außerordentlich viele Fotos für eine, wie er mir einmal schrieb, „spätere, noch unbestimmte Verwendung“. Da war ich wohl etwas gutgläubig. Aber ich bin kein Wissenschaftsmonopolist – mit allen Kafka-Forschern (seien es Koch, Northey, Alt, Born oder Stach) war und ist der gegenseitige Austausch wesentlich gegenseitiger.
Die Fragen stellte Till Spielmann
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