Am 23. Juni vor 120 Jahren wurde die russische Lyrikerin Anna Achmatova geboren. Zum Jahrestag erinnert buchreport in Kooperation mit dem Verlag J.B. Metzler an das „Poem ohne Held“. Ein Auszug aus dem neuen Kindlers Literatur Lexikon, das am 4. September 2009 erscheint.
Poėma bez geroja Triptich
Hauptgattung: Lyrik, Untergattung: Poem (Lyrik), (russ.; Poem ohne Held, 1979, F. Mierau)
Das Poem entstand zwischen 1940 und 1942 und wurde bis zum Jahr 1965 mehrfach überarbeitet. Veröffentlicht wurde es in Teilen ab 1940, vollständig erschien es erstmals 1967 in den USA in Slavonic and East European Review, nahezu vollständig in der UdSSR 1974. Das Sujet des Poems ist schon im Gedicht »Novogodnjaja ballada«, 1923 (Die Neujahrsballade), angelegt: In der Silvesternacht kommen die Gespenster verstorbener Freunde zur Dichterin, um mit ihr Neujahr zu feiern. Obwohl für sechs Personen gedeckt und nur ein Besteck unbenutzt ist, kommen mit der Autorin nur vier Personen vor. Dabei werden die Besucher nicht genannt. Aus den Trinksprüchen lässt sich auf Achmatovas ersten Ehemann Nikolaj Gumilёv und auf die Dichter Osip Mandel’štam und Vsevolod Knjazev schließen.
Das Kompositionsprinzip des Poems wird bereits im Untertitel »Triptich« (Triptichon) deutlich: Es hat drei Widmungen und besteht aus drei Teilen, in denen drei Hauptthemen behandelt und drei ›Helden‹ genannt werden. Der erste Teil, »Devjat’sot trinadcatyj god« (Das Jahr 1913), besteht aus vier Kapiteln, was im Gegensatz zu der mit göttlicher Ordnung verbundenen Zahl drei auf ein Chaos verweist. Dieses bringt sowohl Zerstörung als auch ein unvorhersagbares Spiel, einen Karneval, mit sich. In der Silvesternacht 1941 kommen verkleidete Schatten aus dem Jahr 1913 zu der Dichterin ins »Fontannyj Dom« (Das Haus an der Fontanka), in dem Graf Šeremet’ev im 18. Jh. seine berühmten Maskenbälle veranstaltet hat. Die Verstorbenen mischen sich unter die Lebenden, Helden aus der Literatur wie Faust, Hamlet und Don Juan treten zu den realen Menschen unter Masken-Namen wie »Dapertutto« (Pseudonym des Theaterregisseurs Mejerchol’d) oder »Antinoj« für den Dichter Michail Kuz’min. Alle Masken sind doppelt vergeben, zugleich werden mehrere Masken für ein und dieselbe Person verwendet. So kann sich z. B. unter der Abkürzung »V. K.« sowohl Vasilij Komarovskij als auch Vsevolod Knjazev verbergen, für den seinerseits die Masken des Kornetts, des Pierrots, des Harlekins und des Ivanuška aus dem russischen Märchen stehen. Die Handlungsorte, wie das Kabarett »Brodjačaja sobaka« (Der streunende Hund), Treffpunkt der Petersburger Boheme, und die Neva als Lethe und Symbol des Untergangs und des Todes, geben die dekadente Atmosphäre von Petersburg vor Kriegsausbruch wieder.
Im ersten Kapitel des ersten Teils werden die drei Hauptthemen des Poems vorgegeben: die Rolle des Dichters, die Stadt Sankt Petersburg/Leningrad als kultureller, politischer und geschichtlicher Mittelpunkt und die unglückliche Liebe des Kornetts zu Columbina. Im zweiten Kapitel erscheint Columbina als »Ziegenbeinige«, als »Schatten an der Wand«, und erweist sich schließlich als die Schauspielerin Ol’ga Glebova-Sudejkina. Die unglückliche Liebe Knjazevs zu dieser Femme fatale, die mit dem Selbstmord des Dichters endete, bildet von nun an den Hintergrund des Poems. Reale Geschichten werden mit Gerüchten vermischt, Zitate aus Knjazevs Lyrik eingebaut. Der Dichter Aleksandr Blok, verkörpert in der Figur des »Dämons«, ist im dritten Kapitel neben dem Kornett als weiterer Liebhaber von Columbina zu erkennen. Knjazevs tragisches Ende ist Thema des vierten Kapitels. Dabei werden Columbina und der Kornett zu Heldin und Held einer griechischen Tragödie, in der die Dichterin die Rolle des schlechten Gewissens, des Chors, übernimmt.
Im zweiten Teil des Poems, »Reška« (Kopf), wird die Rolle des Dichters thematisiert. Die Dichterin reflektiert über das im ersten Teil Geschriebene, erklärt die Zahl der Themen und Helden und legt ihre Verfahren offen. Dabei werden Hinweise zur Entschlüsselung der Identität der drei Dichter Majakovskij, Blok und Knjazev gegeben. Die Poesie vermischt sich mit der Musik der 7. Symphonie Leningrad von Dmitrij Šostakovič, in der sich der ganze Schmerz der »von Foltern, Verbannungen und Hinrichtungen bis zum Hals gesättigten« Dichterin konzentriert. Achmatova thematisiert den Konformismus in der Poesie und die Verantwortung des Dichters für sein Schaffen. Als Ideal der freien Kunst erscheint das romantische Poem, in dem sich jede Hymne als doppelt codierter Text erweist.
Im dritten Teil des Poems, »Epilog«, ist das zerstörte Leningrad in einer hellen Sommernacht des Jahres 1942 zu sehen. Mit der Stadt wurden auch die Kultur und die Geschichte zerstört. Die Zeit steht still. Es gibt keine Zukunft, die Freunde sind tot oder verbannt – sei es nach Sibirien oder nach New York. Die »Augen der Stadt« sind mit Grabplatten zugedeckt. Nur ein alter Ahornbaum steht als einziger Zeuge der Geschichte vor dem Haus an der Fontanka. Die letzten Verse des Poems klingen einerseits wie Russlands Ruf nach Rache angesichts des Vormarsches der feindlichen Truppen, andererseits wie die Ankündigung einer Vergeltung für die Zerstörung der Kultur und die Negation der eigenen Geschichtlichkeit durch die eigene, die russische Seite.
Lit.: E. von Erdmann-Pandžić : ›Poėma bez geroja‹ von A. A. Varianten und Interpretation von Symbolstrukturen, 1987.
Marianna Leonova
Zur Person: Anna Achmatova
geb. 23.6.1889 Bol’šoj Fontan bei Odessa (Ukraine)
gest. 5.3.1966 Domodedovo bei Moskau (Russland)
d.i. Anna Andreevna Gorenko
Schulausbildung am elitären Lyzeum von Zarskoe Selo bei St. Petersburg; 1910 Ehe mit dem Dichter N. Gumilëv; litt unter Repressalien in der Stalinzeit; 1924–1940 keine Veröffentlichungen; 1946–1958 Ausschluss aus dem sowjetischen Schriftstellerverband, ab 1964 dessen Vorsitzende; vollständige Rehabilitation erst mit der Perestrojka; neben O. Mandel’štam wichtigste Vertreterin des Akmeismus; zentrale Themen ihrer Dichtung sind die Liebe (vor allem in der frühen Phase), die Berufung und Einsamkeit des Dichters und das Schicksal Russlands.
Ausg.: Beg vremeni: stichotvorenija 1909–1965 [Lauf der Zeit: Gedichte 1909–1965], Hg. M. Dikman, 1965. • Sobranie sočinenij, 6 und 2 Bde, 1998–2005.
Übers.: Poem ohne Held, Hg. F. Mierau [Nachw. R. Orlowa und L. Kopelew]. • The Complete Poems of A. A., J. Hemschemeyer, 1990.
Lit.: A. Haight: A. A. A Poetic Pilgrimage, 21990. • R. Reeder: A. A. Poet & Prophet, 21995. A. Świerszcz: Die ›literarische Persönlichkeit‹ von A. A. Eine Rekonstruktion, 2003. • E. Feinstein: Anna of all the Russias. The Life of A. A., 2005. • A. Harrington: The Poetry of A. A. Living in Different Mirrors, 2006
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