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Peter Schlürmann: »Wir stehen vor einer Zeitenwende«

„Es geht nicht mehr nach früherer ‚All you can buy’-Manier weiter”, findet Peter Schlürmann klare Worte für all jene, die hoffen, dass sich die gegenwärtigen Lieferengpässe und Preissteigerungen bei Papier allein als vorübergehende Corona-Effekte erweisen. Der Bereichsleiter Rolle / Verlage beim Papiergroßhändler Inapa Deutschland kann auf fast 40 Jahre Berufserfahrung in der Papierindustrie zurückblicken und betont einen komplexen Ursachen-Mix aus Corona-Sondereffekten und Strukturbereinigung in der Branche, der zu den gegenwärtigen Problemen geführt habe.

Schlürmann geht nicht davon aus, dass sich die Lage schon im 1. Quartal 2022 deutlich entspannen wird. Aber: „Ich habe die Hoffnung, dass die Lage nicht weiter eskaliert und es vorerst auf diesem für uns alle schwer handhabbaren Niveau weitergeht.”

Wo der Papier-Markt derzeit steht, wie es mit Preisen und Lieferzeiten weitergeht, und wieso sich Verlage bei der Produktion lieber auch ganz grundsätzlich auf längere Vorlaufzeiten einstellen sollten, erklärt er im Interview.

 

Peter Schlürmann

Peter Schlürmann (Foto: privat)

Was sind die Herausforderungen in der Papierindustrie?

Die akute Herausforderung ist, dass die Papierindustrie innerhalb eines Jahres mit Zellstoff-Preiserhöhungen von über 60% konfrontiert worden ist, die dann auch in der Wertschöpfungskette über den Papierhandel an die Druckereien weitergegeben werden. Das hat es in meinen 39 Jahren in der Papierbranche in dieser Größenordnung und kurzen zeitlichen Abfolge noch nicht gegeben.

Wie kommt es zu dieser Preisexplosion?

Die Corona-Pandemie ist ein ausschlaggebender Grund. Im Zuge des Lockdowns gab es einen abrupten Rückgang im Marktgeschehen. Die Kunden haben ihre Lager heruntergefahren, und es wurde deutlich weniger produziert. Umgekehrt gab es jetzt genauso ein massives Wiederanspringen der Wirtschaftsleistung. Das treibt die Kosten in allen Bereichen, bei Holz, bei Granulat, bei vielen Vorprodukten und eben auch bei Zellstoff.

Hinzu kommt: Insbesondere die Lieferketten funktionieren nicht mehr. In der Seefracht gibt es keine verlässlichen Durchlaufzeiten mehr. Normalerweise können wir mit einer Verschiffungszeit von 30 bis 40 Tagen von Asien nach Europa rechnen. Stattdessen befindet sich derzeit 5% des gesamten Schiffsverkehrs in Warteposition vor Häfen, weil die Schiffe nicht entladen werden können, und Container sind nicht dort, wo sie gebraucht werden. Die Frachtkosten haben sich in der Folge vervierfacht.

»Auch für das 4. Quartal hat die Industrie nochmals unisono weitere Preiserhöhungen angekündigt.«

Welche Papiersorten sind von den Preiserhöhungen betroffen?

Im Grunde sind alle Sorten betroffen. In den unteren Sortengruppen wie Zeitungs- und Magazinpapier gibt es bestimmte Preisbindungsfristen, und hier finden in den kommenden Monaten jetzt umso höhere Preissteigerungen statt. Mitunter sind sogar gar keine Bezüge mehr möglich: Zeitungs- und Magazinpapier ist dieses Jahr außerhalb fest kontingentierter Mengen nicht mehr zu bekommen.

Im Bereich holzfreier Papiere erleben wir quartalsweise Preiserhöhungen. Auch für das 4. Quartal hat die Industrie nochmals unisono weitere Erhöhungen angekündigt. Das ist schwer verkraftbar, weil die Märkte es bisher nicht gewohnt waren, mit fortlaufend hohen und sich durchsetzenden Preissteigerungen konfrontiert zu sein.

Wieso?

Wir haben in der Papierindustrie 15 Jahre Marktrückgang hinter uns. Papier war gefühlt überbordend vorhanden: Alle Mengen waren innerhalb von 2 bis 3 Wochen lieferbar, auch Sonderformate. Wir hatten Überkapazitäten je nach Papiersegment von 20 bis 40%. Das hat sich sukzessive, auch durch die Strukturbereinigung bei den Papierfabriken, verändert. Jetzt nähern wir uns dem Ende dieses Restrukturierungsprozesses – auch bei holzfreien Papieren mit dem letzten „big bang“ bei Stora Enso im finnischen Werk Oulo, wodurch dem Markt in diesem Jahr auf einen Schlag 1 Mio Tonnen an grafischen Papieren entzogen wurden.

»Bei Bilderdruck- und Offsetpapieren sind sicherlich 10 bis 20% der Mengen Sicherheitsbuchungen.«

Es ist zu hören, dass sich die Abnehmer aus Angst vor Engpässen stärker bevorraten…

… und es gibt zwangsläufig auch einen gewissen Blaseneffekt. Wer mit langen Lieferzeiten konfrontiert ist, sichert sich durch vorgezogene Buchungen ab, durch Sicherheitsaufträge, was die Lieferzeiten nochmals verlängert.

Wie groß schätzen Sie die Blase durch Reservierungen ein?

Das ist schwer zu sagen. Bei Bilderdruck- und Offsetpapieren sind sicherlich 10 bis 20% der Mengen Sicherheitsbuchungen, die dann vielleicht auch wieder freigegeben werden oder zu einem späteren Zeitpunkt nicht erneut benötigt werden. Die Fabriken versuchen derzeit auch gegenzusteuern, indem sie diese sogenannten Buchungen unter Produktionsstopp nicht mehr akzeptieren.

Ich habe die Hoffnung, dass die Lage nicht weiter eskaliert und es vorerst auf diesem für uns alle schwer handhabbaren Niveau weitergeht. Ich gehe nicht davon aus, dass sich die Lage schon im 1. Quartal 2022 deutlich entspannen wird.

»Von der schnellen Verfügbarkeit, die wir viele Jahre gewohnt waren, werden wir uns verabschieden müssen.«

Wo werden sich die Lieferzeiten einpendeln?

Die bisher gewohnten Lieferzeiten von etwa 3 Wochen haben sich selbst für Massenpapiere inzwischen auf 8 bis 10 Wochen erhöht, mit Ausschlägen nach oben für bestimmte Papiere. Noch länger sind die Lieferzeiten bei Chromokartons für Softcover-Produktionen und Graupappe, die auch von der boomenden Verpackungsindustrie stark nachgefragt werden. Ich gehe davon aus, dass sich die Lieferzeiten sukzessive in Richtung 6 bis 8 Wochen einpendeln werden, aber von der schnellen Verfügbarkeit, die wir viele Jahre gewohnt waren und die uns kurzfristige Umplanungsmöglichkeiten gesichert hat, werden wir uns verabschieden müssen. Auch Verlage werden sich auf deutlich längere Fristen in ihrer Planung einstellen müssen.

Wieso gibt es da kein Zurück mehr?

Wir befinden uns nicht nur in einer coronabedingten Ausnahmesituation, sondern stehen auch vor einer grundsätzlichen Zeitenwende. Die Strukturbereinigung ist nach einem 15 Jahre dauernden Rückgang des Papierbedarfs weit fortgeschritten. Es geht nicht mehr nach früherer „All you can buy“-Manier weiter.  

Was wünschen Sie sich von Ihren Abnehmern? 

Es muss in einer solch schwierigen Situation mit solch komplexen Zusammenhängen zunächst einmal darum gehen, sich offen auszutauschen und zu verstehen, wieso passiert, was aktuell passiert.

Verlagen kann man nur raten, Projekte frühzeitig zu planen – mit 6 bis 8 Wochen mehr Vorlauf als bisher. Das ist für einige ein Paradigmenwechsel, der in den Herstellungsabteilungen erst einmal gestemmt werden muss. Für sie wird es ein schmerzlicher Prozess werden, diese längeren Vorlaufzeiten zum Maßstab ihres künftigen Handelns zu machen.

Ob das Bestreben, sich im Einkauf von Papieren abzusichern, in der Buchherstellung gar einen Trend zu einer stärkeren Standardisierung bringt, muss man sehen. 

 

Produktion in einer Papierfabrik (Foto: lnzyx/123RF.COM)

Themenschwerpunkt: Beschaffung

  • Wie entwickelt sich die Lage in den Beschaffungsmärkten?
  • Wie schätzen Herstellungsleiterinnen, Einkaufsverantwortliche und Lieferanten die Lage ein?
  • Wie lässt sich kurzfristig gegensteuern, und wie lässt sich die Beschaffung dauerhaft resilient aufstellen?

 

buchreport und Publisher Consultants haben Expertinnen und Experten befragt. Ihre Einschätzungen und weitere Erkenntnisse werden sukzessive in einer Serie im Channel Produktion & Prozesse auf buchreport.de veröffentlicht.

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