Weshalb hat es 70 Jahre nach Lean und 40 Jahre nach Scrum und New Work noch immer keinen organisatorischen Durchmarsch gegeben? Weshalb bleiben so viele agile Veränderungsvorhaben, Lean-Initiativen und New-Work-Projekte auf halber Strecke liegen?
Für den Organisationsberater und agilen Coach Edgar Rodehack hat die Antwort mit der Macht-Frage in Unternehmen zu tun. Im Channel Produktion & Prozesse von buchreport.de verweist er auf aktuelle Grenzen des inneren Wachstum in der Verlagsbranche.
Oft sind es beiläufige Begebenheiten, die eine große Wirkung auf uns haben. Erfahrungen, Begegnungen, Sätze, die uns im aktuellen Moment unerheblich erscheinen und dann doch nachhallen und zu wirken beginnen. So erging es mir, als mir meine Kollegin Carolin Auner vor einiger Zeit in einem netten Gespräch über Gott und die Welt ganz nebenbei sagte: „Ach, ihr Agilisten blendet das Thema Macht doch völlig aus.“
Für einen kurzen Moment fühlte ich mich angefasst und herausgefordert. Dann aber dachte ich mir, dass Carolin sicherlich zu wenig über Agilität weiß. Agile Arbeitsrahmen behandeln Macht nämlich durchaus, und sie klären meist sogar ziemlich eindeutig, wie mit ihr umgegangen wird. So sah ich das damals. Und so sehe ich das heute. Richtig gemacht, sorgt Agilität dafür, dass Rollen entweder klar definiert werden – zum Beispiel durch Scrum – oder zumindest möglichst offen diskutiert und festgelegt werden – zum Beispiel durch Kanban: Wer hat was zu tun? Wer entscheidet worüber? Wann? Das ist einer der größten Vorteile, den agile Ansätze überhaupt haben. Denn so werden Statusrangeleien effektiv und pragmatisch ausgehebelt, die in hierarchischen Organisationen bekanntlich sehr verlässlich verhindern, dass schnell und fokussiert gut gehandelt wird: „Wir warten noch auf grünes Licht vom Chef“ – in agilen Organisationen ist damit weitgehend Schluss.¹ ²
So oder so ähnlich rechtfertigte ich mir und selbstverständlich auch Carolin gegenüber dann auch, weshalb Macht eben kein blinder Fleck ist. Nicht für die Agilität allgemein. Nicht für überzeugte Agilisten. Und schon gar nicht für einen agilen Profi wie mich. Basta. Die Sache war damit erledigt. Und schon drehte sich das Gespräch um andere Dinge.
Auge(n) zu und durch?
Doch zu meiner Überraschung war die Sache mitnichten erledigt. „Ihr Agilisten blendet das Thema Macht doch völlig aus.“ Der Satz ließ mich nicht los. Und immer wieder fragte ich mich, ob nicht doch etwas dran ist. Übersehe ich etwas? Denn abgesehen von den Rollen, Kompetenzen und Abläufen im agilen Team, die beim Erarbeiten der Ergebnisse – also im Tun – regeln, wer was wann entscheidet: Was sagt Agilität und mit ihr die agile Szene zu Fragen der Macht in Organisationen, darüber, wer wie wann welche Richtungsentscheidung trifft bzw. treffen sollte?
Wie stehen Agilität und agile Profis dazu? Wie sehen ihre Antworten aus? Zum Beispiel auf die Frage, wie es sein kann, dass großangelegte Initiativen zur Verbesserung der Zusammenarbeit stecken bleiben, obwohl sich doch alle einig zu sein schienen, dass es so wirklich nicht mehr weitergehen kann? Dass in einem agilen Veränderungsprozess Vorgesetzte weiterhin Status-Reports für die laufenden Projekte einfordern und sich noch immer herausnehmen, Ad-hoc-Änderungen vorzunehmen, obwohl das doch genau das ist, was man ändern wollte. Weil es bekanntermaßen den Betrieb stört, Qualität verhindert und horrende Wechsel- und Verzugskosten verursacht, ganz zu schweigen von den Nerven?
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Agiles Wissen ist schnell vermittelt, agile Kollaborations-Tools noch schneller eingeführt. Wie aber bringt man Chefs in Machtpositionen dazu, das neue agile Spiel mitzuspielen? Wissen wir überhaupt genug über Macht, ihre Strukturen und ihre Dynamik? Inwiefern nutzen wir dieses Wissen? Wie gehen agile Berater, Coaches, Change Agents, Scrum Master oder Product Owner grundsätzlich und konkret in ihrer Arbeit mit Macht um? Mein Zwischenfazit ist etwas ernüchternd: Gut möglich, dass wir uns bislang eher wenig bis oberflächlich um diese Fragen kümmern. Und wenn, dann eher einseitig in Hinblick darauf, dass gefälligst reibungslos, zielgerichtet und vor allem schnell akzeptable Ergebnisse produziert werden. Das ist sicherlich nicht schlecht. Doch reicht das?
Verlage scheinen glücklicherweise ihren Schock endlich zu überwinden, dass sich ihr Geschäft wandelt. Es setzt sich immer mehr die Erkenntnis durch, dass sich in unseren Verlagshäusern etwas ändern muss. Die Zeiten werden immer unsicherer! Wir treffen auf immer komplexere Herausforderungen, die wir immer weniger absehen und abschätzen können! Der Markt und der Wettbewerb wird immer unübersichtlicher! Mit unseren Mitteln stoßen wir an Grenzen! Wir kommen nicht voran, wir werden abgehängt! Wir arbeiten zu langsam, zu schwerfällig, am Bedarf vorbei! Autoren, Leser, Mitarbeiter und Investoren springen ab! Unsere in der Vergangenheit so erfolgreichen Strukturen helfen uns nicht mehr! Ja, sie werden sogar zur Gefahr! Wir brauchen schnellere, transparentere, durchlässigere, flexiblere, eben: agilere Strukturen! Wie sonst sollen wir immer wieder und schnell wichtige Entwicklungen erkennen, wie koordiniert (re-)agieren und Werte schöpfen und Geld verdienen? New-Work! Lean-Ansätze! Agilität! Der gnadenlose Fokus auf das Wesentliche, auf das Machbare, auf die Wertschöpfung sind die Rettung!
Was hat ein Auge, zwei Daumen und ist einfach nur super?
Das zumindest pflegten fortschrittliche Berater, Coaches und auch der Zukunft zugewandte Verlagsmitarbeiter und -Führungskräfte in den vergangenen Jahren gerne mit großer Überzeugung zu denken und vorzutragen – auch ich. Doch genauer betrachtet, stimmt da etwas nicht. Wenn unsere Diagnose zutreffend ist, wenn die neuen Formen der Zusammenarbeit die Rettung sind, wenn sie klassischen, hierarchischen Organisationensformen überlegen sind: Wieso arbeiten nicht schon längst alle Unternehmen und sonstige Organisationen nach deren Maßstäben? Weshalb hat es 70 Jahre nach Lean und 40 Jahre nach Scrum und New Work noch immer keinen organisatorischen Durchmarsch gegeben?³ Weshalb bleiben so viele hoffnungsvoll und mit Elan gestartete agile Veränderungsvorhaben, Lean-Initiativen und New-Work-Projekte auf halber Strecke liegen, obwohl wir doch als Experten und Enthusiasten oft selbst mit Feuereifer daran beteiligt sind?
Ist es nicht unsere Aufgabe, als professionelle und überzeugte Organisations-Empiriker, uns genau diese Fragen immer und immer wieder zu stellen? Haben wir eigentlich das erreicht, was zu erreichen war? Wie viele Verlage haben wirklich auf ein anderes Arbeiten umgestellt bzw. sind tatsächlich ernsthaft auf diesem Weg? Mit welchem Erfolg bzw. Misserfolg? Haben sich Strukturen gewandelt? Und falls sich etwas geändert hat: Ist es sicher nicht vorgeblendet? Wie viele Verlage gehen die Dinge heute wirklich anders an als früher?
Zum Beispiel: Wo werden heute Entscheidungen anders gefällt, von anderen Menschen bzw. Positionen? In anderen Konstellationen als früher? In anderen Rhythmen? Mit anderer Datenbasis? Hat sich der Ton, die Art und Weise, wie und worüber miteinander gesprochen wird, wesentlich geändert? Sind Leser, Autoren, Dienstleister involviert oder zumindest mitgedacht? Haben sich Abläufe wesentlich geändert? Oder treffen wir uns noch immer in den gleichen Jour Fixes in den gleichen Zirkeln? Wurden oder werden Silos umgebaut bzw. aufgelöst und Teams neu organisiert? Werden Job-Titel angepasst oder sogar abgeschafft? Werden neue Leute eingestellt? Bekommen die Verlage die Experten und den Nachwuchs, die sie so dringend brauchen? Für neuartige Projekte? In noch unbekannten Bereichen? Haben diese Menschen die Freiheiten und Möglichkeiten, ihre Ideen auszuprobieren und zum Erfolg zu führen? Gibt es inzwischen irgendwo andere Organigramme als die pyramidenförmigen von früher? Und: Haben sich Stresspegel und Mitarbeiterzufriedenheit verbessert?
Es ist offensichtlich: Einiges liegt noch im Argen. Der Start in neue Arbeitswelten verläuft in der Verlagswelt eher gemächlich, trotz schon länger heraufziehender digitaler Drohkulisse, siehe oben.
Wenn wir es als Veränderungsbegleiter ernst meinen und ernst genommen werden wollen, wenn wir professionell gute Arbeit leisten möchten, müssen wir uns fragen, was wir anders tun sollten. Was können, was müssen wir verbessern?4 Der Lean-Spezialist Bob Emiliani geht dieser Frage in seinem Buch „The Triumph of classical Management over Lean“5 schonungslos offen nach. Das ist schmerzhaft unbequem. Denn es gefährdet das Erfolgs- und Überlegenheitsnarrativ all jener, die neuartige Ansätze, Methoden und Tools als allein ausreichend betrachten, um dringende Veränderungen zu initiieren und herbeizuführen. Das ein oder andere gefällige Selbstbild ist in Gefahr. Denn was sagt es über Lean, Agile und New Work aus, wenn sie sich noch nicht etabliert haben? Was sagt das über uns, unsere Expertise und die Qualität unserer Arbeit?
Dabei geht es nicht um Anklage oder Selbstanklage. Es geht darum, das Problem zu erkennen und die wahren Ursachen zu finden. Nämlich durch Vermeiden.
Um unsere Arbeit besser zu machen und den Wandel erfolgreicher zu gestalten, brauchen wir die richtigen Ansätze an den richtigen Stellen. Also: Bringt’s Lean, Agile, New Work vielleicht doch nicht so, wie wir glauben und behaupten? Längst widerlegt. Vermitteln wir nicht gut genug? Gut möglich, als ausschlaggebender Grund aber eher unwahrscheinlich. Warum sind agile Initiativen dann so zäh? Warum bleibt der durchschlagende, breite Erfolg aus? Warum verharren so viele Unternehmen in ihren Strukturen? Was übersehen wir?
Raus aus der Schonhaltung!
Vielleicht, dass wir (bewusst?) in Schonhaltung gehen und unangenehme Erkenntnisse ausblenden? Erkenntnisse wie die,
- dass es nicht allein und schon gar nicht als erste und einzige Maßnahme ausreicht, MitarbeiterInnen zu schulen, Zertifikate zu sammeln und „neuartige” Methoden oder Tools einzukaufen.6
- dass stattdessen natürlich zuerst die grundlegenden Strukturen zu betrachten sind: Was soll erreicht werden? Wie? Wie sollten wir dazu organisiert sein? Was ist der erste sinnvolle Schritt in diese Richtung?
- dass dazu natürlich notwendig ist, sich in die Niederungen der konfliktreichen, angstbesetzten und im Verlag vielleicht besonders Status-verminten und geschichtsträchtigen Beziehungsarbeit zu stürzen. Auch wenn das heißt, sich gelegentlich „bleihaltiger” Luft auszusetzen. Umso mehr ist dies mit Sachverstand und professioneller Distanz zu tun. Aber eben auch mit dem Quäntchen Spaß und Lust, das jeder Profession innewohnt.
- dass das auch heißt, intensiv und von der Geschäftsführung ausgehend mit allen Führungskräften auf allen Ebenen zu arbeiten und mit ihnen gemeinsam die wichtige Macht-Frage zu klären: Wo soll das Unternehmen heute (!) hinsteuern? Wie soll es das tun, um morgen und übermorgen (!) gut wirtschaften zu können?
- dass es wichtig ist, die Führungskräfte auf diese Art in die Verantwortung zu nehmen, die sie für das gesamte Unternehmen und die Menschen darin haben.
- dass dabei vor allem auch die sichtbare und unsichtbare Macht-Politik mitzubedenken, mitzubearbeiten und auf gute, konstruktive Weise aufzulösen und zu nutzen sind. Mit allem, was dazugehört: persönliche und strukturelle, offene und versteckte Egoismen, Selbstherrlichkeiten, Ungerechtigkeiten, Ängste, und auch Brutalitäten und Gewalttätigkeiten.
Anders gesagt: Dass neben dem ABC der agilen, Lean- oder New-Work-Methoden besonders auch das Regelwerk der Macht zu spielen ist.7
Wer vor diesen Erkenntnissen die Augen verschließt, sollte sich zumindest die Folgen klar machen: Zwar erledigen die gut funktionierenden Verlagsabteilungen ihre ohnehin schon hocheffizienten Verlagsprozesse mit agilen Mitteln unter Umständen eine kurze Weile ein bisschen effizienter. Mehr Effizienz ist in komplexen Welten, in denen wir uns immer öfter wähnen, allerdings kein Vorteil. Es ist sogar ein Nachteil. Verlage und alle anderen Unternehmen erweisen sich also einen Bärendienst, wenn sie agile Ansätze als reine Methodik einführen. Sie verschärfen damit die strukturellen Probleme, die sie vorgeben, loswerden zu wollen. Denn alleine mit der Frage, ob sie die Dinge richtig, zum Beispiel agil tun, lenken sie sich von momentan wichtigeren Fragen ab. Nämlich, ob sie die richtigen Dinge tun, also zum Beispiel dafür sorgen, auch zukunftsfähige Produkte und Services anbieten zu können und sich dafür gut organisieren. Die Macht-Frage ist zu stellen und neu zu beantworten: Wer trifft in der Organisation wann wie und worüber welche Entscheidung? Und zwar so, dass der Verlag rechtzeitig passende Angebote machen kann und somit dauerhaft eine tragende Rolle in der Vermittlung von Geschichten und Wissen spielt.8
„Ach, ihr Agilisten blendet das Thema Macht doch völlig aus.“ Ja, gut möglich, dass viele agile Enthusiasten, Praktiker und Berater Macht als Thema ausblenden oder unterschätzen und sich lieber aufs Tun stürzen, auf Strukturen, Tools, Methodisches.9 Ich zumindest gestehe: Ich bin gefährdet. Sicher ist, dass wir uns damit selbst ein wirksames und entscheidendes Mittel für unseren Erfolg nehmen, dass wir dadurch unsere gewillten Klienten im Regen stehen lassen und den organisatorischen Status Quo zementieren und damit die ungute Lage verschärfen. Obwohl wir sie doch zum Guten wenden sollen und wollen. Die nächste Initiative, die ins Leere läuft. Können wir uns das leisten?
Edgar Rodehack
Mit freundlicher Genehmigung des Teamwork-Blog.
Anmerkungen
¹ Die gute, alte Lean-Schule halt: Vermeiden von Waste (Überflüssigem). Siehe: Rother, Mike: Die Kata des Weltmarktführers. Toyotas Erfolgsmethoden. Frankfurt am Main, 2013. Senge, Peter M.: Die fünfte Disziplin. Kunst und Praxis der lernenden Organisation. Stuttgart, 2011.
² Hier ist noch hinzuzufügen: Das alles geschieht, so gut es eben geht. Im sogenannten agilen Change – und auch im sonstigen Geschäftsalltag – kommt es natürlicherweise und zwansläufig zu hybriden Strukturen, also dazu, dass hierarchische und agile Strukturen parallel existieren.
³ Zumindest eine New-Work-Revolution könnte man doch erwarten.
4 Gut möglich auch, dass wir an dieser Stelle hinter unsere eigenen professionellen Erwartungen zurückfallen. Seit nunmehr 14 Jahren können wir im jährlich erscheinenden „State of Agile-Report“ nachlesen, dass „general organization resistance to change“ und die mangelnde Unterstützung des Managements und der Führungskräfte als größte Hindernisse für den agilen Change gesehen werden. Was brauchen wir noch, um zu erkennen, dass wir für eine höhere Erfolgsquote wohl besser genau in diesen Etagen ansetzen?
5 Das kommt allerdings nicht überall in der Szene gut an – das Schicksal der Whistleblower. Ein für eine prinzipienverliebte Szene ein eher peinlicher Vorgang.
6 Solche ziellosen aktionistischen Maßnahmen verpuffen meist ohne größere Auswirkung. Denn: „A fool with a tool is still a fool.” Für Trainer, Berater und Coaches sind sie aber mittelfristig sehr lukrativ.
7 Um in Bob Emilianis Worten zu sprechen: Wir haben das „Management Playbook“ zu kennen, zu erkennen und uns danach auszurichten. Anders gesagt: Wir haben bis zu einem gewissen Grad auch das politische Spiel zu spielen, um einem echten Wandel zumindest eine Chance zu geben.
8 Für nähere Hintergründe hierfür siehe vor allem Dave Snowdens Ausführungen in „The Cynefin-Framework.“ (Youtube-Video). Wer gerne knöcheltief oder noch tiefer durch Themen watet, dem seien auch diese Bücher empfohlen: Taleb, Nassim Nicholas: Antifragilität. Anleitung für eine Welt, die wir nicht verstehen. München, 2013. Gigerenzer, Gerd: Risiko. Wie man die richtigen Entscheidungen trifft. München, 2013.
9 Oder – das andere Extrem – abgehobenere, philosophischere oder spirituellere Themen.
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