Kurz und knapp hat Sibylle Berg in ihrer Kolumne bei Spiegel Online das Verhältnis der Buchbranche zu Amazon auf den Punkt gebracht: „Amazon. Wähh bähh, Amazon.“ Für Buchhandel und Verlage ist der E-Commerce-Gigant in der Tat ein wahres Schreckgespenst. Es geht um E-Book-Konditionen und Lieferzeiten, gerne aber auch um Größeres. Dass der Ruf nach kartellrechtlichen Schritten von einer Branche kommt, die mit der Buchpreisbindung von einer wettbewerbsrechtlichen Sonderregelung profitiert, sei hier nur am Rande erwähnt. Dabei sei klargestellt: Amazons Agieren verteidige ich keineswegs – aber wachrütteln würde ich gerne. Und dafür werben, nach vorne zu schauen statt zurück und das Schicksal in die eigenen Hände zu nehmen, als die Verantwortung für Wohl oder Wehe bei anderen zu suchen.
Dass rund ums Buch nicht mehr alles so läuft wie in den besseren Zeiten ist sicher unbestritten: Der Handel mit Büchern verlagert sich seit Jahren ins Web und die Geschwindigkeit dieser Entwicklung nimmt durch die Digitalisierung von Allem immer weiter zu. Für die Branche wird das zu einem ziemlich großen Problem, denn die Kontrolle über den digitalen Markt und seine Konsumenten haben nicht die Verlage und schon gar nicht der Buchhandel, wie wir ihn kennen. Und während wir uns noch wundern, verändert sich das Wettbewerbsumfeld, emanzipieren sich die Konsumenten im Web und kaufen was sie wollen, wo sie wollen und zu welchem Preis sie wollen (im Zweifel kostenlos und illegal). Und Amazon rollt den Markt nach seinen Regeln auf und schafft innerhalb von vier Jahren einen mehr als 50-prozentigen Marktanteil im deutschsprachigen E-Book-Markt – einschließlich dem Versuch, mit der Verlagsseite die Kontrolle über die gesamte Wertschöpfungskette zu bekommen.
Im Übrigen ist das mit der „Digitalisierung von Allem“ nicht nur so daher gesagt. Wir sollten uns in Erinnerung rufen, dass der „Megatrend Digitalisierung“ nicht nur die Medienwelt verändert. Es ist eine Entwicklung, die die Gesellschaft und mit ihr alle Wirtschaftszweige mitreißt – und die wenigsten sind auf die Konsequenzen vorbereitet. Aber wie buchen wir unsere Reisen? Wie erledigen wir Bankgeschäfte? Wo informieren wir uns über ein neues Auto oder eine Immobilie? Wie kommunizieren, wie fotografieren wir? Wie und wo hören wir Musik?
Für die Buchbranche ist der dringend notwendige Wandel vielleicht besonders schwer umzusetzen: Sie wurde immer geschützt und behütet; zum Beispiel durch die Buchpreisbindung oder das Remissionsrecht. Aus kulturpolitischer Sicht ist das sicher nachvollziehbar und zu befürworten, nur zeitgemäß ist es nicht und dieser (vordergründige) Schutz entwickelt sich vielleicht gar zu einem Bumerang: Wir bewegen uns mittlerweile in einer globalisierten Welt, in der nationale Grenzen für den Austausch von Waren und Leistungen, insbesondere von digitalen, so gut wie keine Rolle mehr spielen. Es gibt so gut wie keine Eintrittsbarrieren mehr für ausländische Player, die sich in ihren Heimatmärkten einem Wettbewerb stellen mussten, vor dem die Politik die nationalen Marktteilnehmer zu großen Teilen geschützt hat. Anpassungsfähigkeit ist plötzlich eine Kernqualifikation und nötig, um das eigene Überleben zu sichern.
Mit der Digitalisierung ist der Wettbewerb in die Welt der Verlage und Buchhändler eingebrochen. Dass dies trotz Buchpreisbindung geschah, zeigt, wie sehr sich die Spielregeln verändert haben. Die Branche aber hat die letzten 15 Jahre – auch Amazon wurde nicht von heute auf morgen groß – mehr oder weniger verschlafen: Wo gab es die Innovationen, die eine Antwort auf die Digitalisierung hätten sein können? Der Blick zurück und das Einreden der eigenen (vermeintlichen) Stärke hat auch in anderen Branchen schon nicht geholfen, beispielsweise Kodak, Quelle oder Karstadt.
Der Branche sollte mehr zu ihrer misslichen Lage einfallen als noch intensivere Lobbyarbeit und der Ruf nach dem Staat, also nach politischem Protektionismus, nach neuen Schutzzäunen. Zumindest aber sollte man sehen, dass der Staat, der selbst im Sog dieser Digitalisierung steht, für die Buchbranche nicht endlos eine Sonderwirtschaftszone schützen wird – Innenstädte und Kulturgut hin oder her. Sollten aber die staatlichen Privilegien eines Tages gestrichen werden, wird die Branche mit leeren Händen dastehen.
Die enorme Umwälzung, die durch die Digitalisierung der Gesellschaft entsteht, erfordert eine tiefgreifende Neuausrichtung von allem: Produkte, Distributionswege, Preisstrukturen, technologische Kompetenzen in den Verlagen und bei den Händlern, alles muss neu durchdacht und neu organisiert werden. Der Kunde und Leser von morgen – und „morgen“ ist schon in fünf bis sechs Jahren – entstammt einer Generation, die in der digitalen Welt aufgewachsen ist und die ein völlig anderes Konsumverhalten an den Tag legt als die bisherigen Kunden. Schon der Begriff „Lesen“ hat für diese Kunden eine ganz neue Bedeutung.
Hier muss angesetzt werden. Verlage und Handel müssen für diese Klientel Werte schaffen, sie müssen Formen für Systeme entwickeln, die grundsätzlich anders gedacht sind, als bedrucktes Papier zwischen zwei Kartons; Verlage und Buchhandlungen müssen direkt mit ihren Kunden interagieren. Mehrwert bieten (mit Betonung auf „Mehr“). Warum sollte sich ein Konsument ein „Buch kaufen“ statt seine Zeit bei Facebook zu verbringen – und warum sollte er woanders kaufen als bei Amazon? Das sind die Fragen, die gestellt werden müssen und die vielleicht dazu führen, dass sich die Branche von der Abhängigkeit einiger weniger Player lösen kann.
Wenn wir nicht so enden wollen wie die Musikindustrie, bei der sich in wenigen Jahren 40 bis 50 Prozent des Marktes einfach in Luft aufgelöst hat, dann müssen wir dringend beginnen, in neuen und zeitgemäßen Verwertungsoptionen zu denken. Innovationen sind gefragt. Amazon-Wäh-Bäh ist nicht innovativ.
Ralf Biesemeier ist Geschäftsführer von readbox in Dortmund
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