Viel wird über die Zukunft der Branche spekuliert – vom Aussterben der Verlage, der Auflösung der Grenzen zwischen Buch-, Film- und Musikwelt bis hin zu neuen Erlösmodellen wie Crowdsourcing werden verschiedene Szenarien diskutiert. Doch welche Zukunftsprognosen sind realistisch? Und wie gut ist die Branche darauf vorbereitet? Die Frankfurter Buchmesse hat gemeinsam mit der Agentur Newthinking Zukunftsszenarien entwickelt und ein Stimmungsbild der Branche entworfen.
Ausgangspunkt waren 22 Video-Statements von Vordenkern aus der Buch- und Medienwelt (hier zu sehen). Daraus wurden sieben Zukunftsszenarien entwickelt, die in einer internationalen Umfrage zur Diskussion gestellt wurden. Teilgenommen an der der Online-Umfrage haben rund 1400 Akteure aus der Buchbranche.
buchreport.de stellt die Ergebnisse in Kurzfassung vor. Die ausführliche Fassung aus Frankfurt ist hier zu finden.
Medienkonvergenz: 2022 bekommt man alles auf einen Wisch
Szenario 2022: Die Medien verschmelzen immer weiter: Smartphones und Tablets haben sich kontinuierlich weiterentwickelt. Und mit ihnen die optimal an die Technik angepassten Inhalte. Sie sind hochflexibel und in Form von Bild, Text, Sound, Film und Game verfügbar. Medizinische Fachbücher bieten zwanzig Hörproben von Keuchhusten. Zur Biografie von Mozart kann der Nutzer Bilder, Filme, Musikstücke, aktuelle Konzertangebote oder Noten aufrufen. Viele Geschichten und Inhalte werden transmedial über die verschiedenen Medien hinweg erzählt. Das klassische Buch und der Kinofilm bedienen nur noch einen Nischenmarkt.
Der Trend zur Medienkonvergenz scheint bei vielen Branchenteilnehmern angekommen. Mit einer durchschnittlichen Quote von 38% erreichte das Szenario die höchste Zustimmungsrate: Ungefähr die Hälfte der Teilnehmer hat bereits multimediale Produkte im Angebot oder in Planung. Doch immerhin 19% erwarten keine großen Veränderungen. Viele wollen den Trend vorerst beobachten und abwarten.
Die virtuelle Welt durchdringt 2022 alle Lebensbereiche
Szenario 2022: Die Unterscheidung von realer und virtueller Welt existiert in vielen Bereichen nicht mehr. Das „Internet of Things“ verlässt die Computergehäuse und verbindet sich mit der Umwelt. Die Technologie dafür ist nahezu unsichtbar. Aus Häuserwänden und Tischen sind teilweise Touchscreens geworden. Datenbrillen oder Sensoren in Kleidern lassen den Menschen nonstop online sein. Viele mediale Angebote sind sensorisch erlebbar: Der Rezipient sieht, hört, schmeckt und fühlt die fiktiven Erlebnisse der Protagonisten „mit“. Vor, während und noch lange nach dem eigentlichen Rezipieren taucht er auf Story-Portalen mit anderen Nutzern immer wieder in die Geschichten ein. Geschichten sind jetzt Teil der Wirklichkeit, die Wirklichkeit ist Teil der Geschichten.
Ein Szenario, bei dem die meisten Branchenmitglieder mit dem Kopf schütteln. 89% stehen der Verschmelzung von realer und virtueller Welt ablehnend gegenüber. In Kommentaren warnen die Teilnehmer vor einer „Überreizung der Sinne“. Eine hohe Relevanz für die Branche sei nicht gegeben, meint knapp die Hälfte der Teilnehmer. Doch immerhin 45% beobachten den Trend.
Geschichten sind in der Zukunft autark und liquide
Szenario 2022: Ein neues Urheberrecht und die Standardisierung von Formaten macht Content autark: Viele Inhalte können jetzt nicht nur getauscht, verschenkt und auf allen Geräten angezeigt, sondern auch neu zusammengesetzt, gemasht, remixt oder verändert werden. Einige Rezipienten sind mit ihrer Fan-Fiction hochaktiv, treiben Geschichten voran, erzählen sie weiter und fügen sie mit anderen Geschichten zusammen. Autoren, Verlage und die Rezipienten selbst erzählen so – immer öfter gemeinsam – nicht-lineare Story-Universen mit unendlich vielen Handlungssträngen. Die Crowd ist gleichzeitig (Co-)Autor, Lektor und Marketer.
Fast die Hälfte der Studienteilnehmer ist darauf vorbereitet, dass die Inhalte standardisiert sind und über alle Endgeräte abrufbar sind. Der Mitgestaltung dieser Inhalte durch die Leser stehen die meisten aber ablehnend oder beobachtend gegenüber: Nur ein Viertel ist darauf vorbereitet, dass die Rezipienten die Geschichten mitgestalten und verändern. Auf ein neues Urheberrecht ist nur jeder Fünfte vorbereitet; 65% beobachten die Diskussion über eine Reform oder stehen ihr zurückhaltend gegenüber.
Geschichten werden für einzelne Nutzer(-gruppen) personalisiert
Szenario 2022: Rezipienten fordern Mitbestimmung und individualisierte Geschichtenerlebnisse statt uniformer „Story-Pakete“. Die Welt des Rezipienten und er selbst beeinflussen den Verlauf der Geschichte. Je nach Situation, Bedarf und Nutzerprofil verändern sie die Story: Als Fünf-Minuten-Shortstory auf dem Smartphone an der Bushaltestelle oder abendfüllend beim Spieleabend mit Freunden. Freemium ist das neue Modell: Basisvarianten sind meist kostenlos – Premiumvarianten und Mehrwertdienste kosten Geld oder werden mit persönlichen Daten „bezahlt“.
Bei den personalisierten Geschichten zeigt sich eine deutliche Ambivalenz innerhalb der Branche: Während durchschnittlich 30% dem Thema skeptisch respektive ablehnend gegenüberstehen, bringen sich 27% mit entsprechenden Produkten in Stellung. Je höher das Mitspracherecht der User, desto niedriger ist die Zustimmung der Medienvertreter. Den Kommentaren zufolge fürchten Einzelne die Gefahr der Überforderung oder Übersättigung der Nutzer, wenn die Geschichten individuell zugeschnitten werden.
Zukunft der Zusammenarbeit: Neue Arbeitsverhältnisse bestimmen den Markt
Szenario 2022: Viele Produktionen sind extrem komplex geworden und müssen in sehr kurzer Zeit fertig gestellt werden. Kaum ein Unternehmen kann es sich mehr leisten, den benötigten Expertenpool vorzuhalten. In der Folge bilden sich hochflexible, interdisziplinäre Netzwerke, deren Akteure nach Bedarf projektbezogen zusammenarbeiten. Das Verhältnis Auftraggeber und Kreativer hat sich gewandelt: Die A-Player unter den Kreativen lassen sich selbstbewusst von Verlagen und Agenturen umwerben. Sie arbeiten interdisziplinär für alle Branchen. Auch Autoren und Entwickler sind durch die Möglichkeiten von Self Publishing, Social Media und Crowdfunding unabhängiger. Verlage entwickeln sich zunehmend zu Beratungs- und Dienstleistungsagenturen für Autoren und Entwickler.
Ein Szenario, das breite Zustimmung findet. Nur jeder Fünfte glaubt nicht daran, dass sich die Zusammenarbeit zwischen Autoren und Verlagen oder die Akquise von Mitarbeitern verändern wird. 42% der Befragten sind darauf vorbereitet, dass die Verlage sich als Dienstleister der Autoren profilieren müssen. Auf Selfpublishing sind 39% eingerichtet, 43% beobachten den Trend oder sind zurückhaltend.
Kollaboration für Innovation: 2022 wird von Kooperationen dominiert
Szenario 2022: Allianzen zwischen Inhalteanbietern und anderen Branchen stehen auf der Tagesordnung: Verlage und Medienhäuser schließen sich z. B. mit IT-Dienstleistern oder Telekommunikationsfirmen zusammen. Gemeinsam stellt man sich im Markt neu auf. Inhalte werden vornehmlich über das Internet und in interdisziplinären Teams kreiert und immer öfter untereinander zur Verfügung gestellt. Viele Schranken zwischen den Marktteilnehmern sind durch Open Innovation und Crowdsourcing verschwunden. So treten auch Konsumenten 2022 vermehrt als Teilhaber und Geschäftspartner von Medienanbietern auf.
Der Zusammenschluss der Tolino-Partner hat gezeigt, dass die Branchenunternehmen den Schulterschluss untereinander und mit Technologie-Experten suchen, um mit den globalen Internet-Riesen mithalten zu können. Eine Entwicklung, die von vielen Teilnehmern der Branche befürwortet wird: Mehr als jeder Dritte ist der Meinung, dass die Branche den Blick über den Tellerrand suchen muss. 44% sind darauf vorbereitet, dass sich Inhalteanbieter mit anderen Branchen zusammenschließen müssen.
Zurückhaltend ist man bei der Betrachtung der Konsumenten als Geschäftspartner oder Investoren. 46% beobachten diese Entwicklung, 20% messen ihr keinerlei Bedeutung bei.
Wertschöpfung: Medienunternehmen setzen auf neue Kerntätigkeiten
Szenario 2022: Viele Verlage konzentrieren sich neben der Kuration von Inhalten auf die Organisation von Events rund um Geschichten und sind so zu Erlebnisagenturen geworden. Sie haben treue Communities aufgebaut, die Projekte aktiv unterstützen und durch Crowdfunding finanzieren. Gleichzeitig sind die vom Markt geforderten multimedialen Produktionen enorm teuer und lassen sich nur noch mit Budgets à la Hollywood umsetzen: Doch durch die Einbindung vieler Geldgeber (z. B. Fans per Crowdfunding) bzw. die weltweite Verwertung von Medieninhalten können die anfallenden Produktionskosten refinanziert bzw. eingespielt werden.
Das Szenario „Neue Wertschöpfung“ impliziere die vielleicht radikalste Umdeutung des traditionellen Selbstverständnisses von Verlagen und Medienunternehmen, schreiben die Frankfurter. Der Siegeszug von Crowdfunding bringe die endgültige Demokratisierung von Verlags- und Medienprodukten mit sich – und damit das Ende der verlegerischen Autorität. Entsprechend überrasche es nicht, dass rund ein Drittel der Befragten die Relevanz des Themas negiert.
Doch immerhin 17% fühlen sich darauf vorbereitet, ihre Produktionen mithilfe des Schwarms zu finanzieren. Der Aufbau von Communities dagegen ist für viele Branchenteilnehmer bereits Teil des Geschäftsmodells.
Verglichen mit den deutschen Befragten zeigten sich die internationalen Umfrageteilnehmer gegenüber den Szenarien und Trends tendenziell offener und zustimmender, bilanziert die Buchmesse. Die größten Differenzen zeigten sich bei den Themen zu neuen Kooperationen bzw. den Veränderungen in der Arbeitswelt: Gegenüber den deutschen Teilnehmern seien die internationalen weitaus vertrauter mit Kooperationen, freien Netzwerken und „offener Innovation“.
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