SPIEGEL ONLINE nimmt sich jede Woche den wichtigsten Neueinsteiger, Aufsteiger oder den höchstplatzierten Titel der SPIEGEL-Bestsellerliste vor – im Literatur-Pingpong zwischen Maren Keller und Sebastian Hammelehle.
Diesmal: Jenny Erpenbecks „Gehen, ging, gegangen“, einer der fünf Kandidaten für den Deutschen Buchpreis, klettert auf Platz 5. Diskutiert wird die entscheidende Frage: Und das soll ich lesen?
Keller: Über Jenny Erpenbecks Roman heißt es, es sei „der Roman zur Stunde“ oder halte den „Aktualitätsrekord“, weil er die Not der Flüchtlinge in Deutschland thematisiert. Zudem steht er auf der Shortlist für den Deutschen Buchpreis. Ist dies das eine Buch, an dem in diesem Herbst niemand vorbeikommt, der sich für Literatur und für die Veränderungen in unserem Land interessiert?
Hammelehle: Ja, aber nicht nur, weil „Gehen, ging, gegangen“ die Geschichte eines Deutschen erzählt, der anfängt, sich mit einer Gruppe afrikanischer Flüchtlinge zu beschäftigen. Jenny Erpenbecks Roman war gerade erschienen, als sich die Flüchtlingskrise in Deutschland zuzuspitzen begann. Nun hat ihre Hauptfigur, der pensionierte Berliner Wissenschaftler Richard, eine Bedeutung, die er bei Niederschrift des Buches noch gar nicht haben konnte: Er steht für ein ganzes Land. Erpenbeck macht das sehr geschickt, wie sie Richards anfängliche Unsicherheit, seine tastende Annäherung an einzelne Flüchtlinge aus der Gruppe beschreibt. Denen gibt Richard, weil er Altphilologe war, zum Teil antike oder mittelalterliche Namen. Ihre echten, afrikanischen Namen kann er sich nicht merken. Damit werden diese Menschen sozusagen europäisiert. Aber das ist nur eine Ebene dieses vielschichtigen Buches, in dem es nicht nur um Flüchtlinge, sondern auch ums Älterwerden und die Beziehungen zwischen Männern und Frauen geht.
Keller: Erzählt dieser Roman denn etwas über Flüchtlinge, das kein Essay, kein Nachrichtenstück und keine Reportage erzählen könnte?
Hammelehle: Ein Leser hat mich vergangene Woche dafür kritisiert, dass ich die Tagebücher von Samuel Pepys als Roman bezeichnet habe. Formal sind sie das nicht, stimmt, aber sie sind wie ein Roman. Wahrscheinlich könnte auch ein Essay, ein Nachrichtenstück oder eine Reportage, so breit angelegt, erzählen wie ein Roman. Was Jenny Erpenbecks Roman aber im Vergleich zu derartigen aktuellen Texten auszeichnet, ist, dass in „Gehen, ging, gegangen“ ganz unterschiedliche Aspekte des Fremdseins behandelt werden: das Fremdheitsgefühl der Flüchtlinge zum einen, aber auch das Fremdsein der Ostdeutschen im wiedervereinigten Deutschland, das Fremdeln mit einem neuen Lebensabschnitt, die Entfremdung in einer Beziehung. Erpenbecks Kunst ist, dass ihr Roman dabei trotzdem nie theoretisch wird – wenn sie auch die afrikanischen Flüchtlinge mitunter etwas zu sehr als reine Seelen, als ziemlich schlichte Gemüter darstellt. Das gehört eben auch zum Fremden: dass man alles auf ihn projizieren kann.
Keller: Dabei interessiert den Pensionär zunächst ja gar nicht das Fremde, sondern eine unerwartete Gemeinsamkeit: Mit dem Ende seines Arbeitslebens sind ihm auch die ordnenden Strukturen eines geregelten Tagesablaufs abhandengekommen. Er könnte theoretisch jeden Tag ein Frühstücksei essen, nicht nur sonntags. Er kann sich mit dem Teetrinken mehr Zeit lassen und auch die Meldungen in der Zeitung lesen, die er sonst nur überflogen hätte. Als ehemals erfolgreicher Professor ist das etwas, was er nicht kennt: nichts zu tun haben.
Hammelehle: Deshalb verschafft er dann auch den Flüchtlingen Beschäftigung. Die schönste Passage des Buches ist für mich die, in der er einem von ihnen das Klavierspielen beizubringen versucht und ihm schließlich Karten für Bachs Weihnachtsoratorium im Berliner Dom kauft. Wie jeder klassisch deutsche Roman hat auch dieser eine Weihnachtsszene, wenngleich es dabei nicht so bilderbuchhaft festlich zugeht, wie bei Thomas Mann. Sondern eher unbeholfen. Über das Wort „Willkommenskultur“ ist viel diskutiert worden in letzter Zeit. Auch dieser Roman gehört zu dieser „Willkommenskultur“. Er ist dementsprechend gut gemeint. Und er ist, was ja beim Gutgemeinten nicht immer hinhaut, auch relativ gut gelungen – trotz einer zentralen Schwäche: der eindimensionalen, eigentlich sogar überheblichen Darstellung der Afrikaner.
Keller: Ebenso selbstverständlich wie, dass man Flüchtende willkommen heißt, dürfte also die Antwort auf die Frage sein: Und das soll ich lesen?
Hammelehle: Ja – allein schon, um sich ein Urteil zu bilden über ein Buch, das in diesem Herbst allein schon seiner Aktualität wegen den Deutschen Buchpreis bekommen dürfte.
Maren Keller ist Kulturredakteurin des SPIEGEL. Sie will schon seit Jahren mal ins Weihnachtsoratorium im Hamburger Michel gehen.
Sebastian Hammelehle ist Kulturredakteur des SPIEGEL. Er spielt fast so schlecht Klavier wie Erpenbecks afrikanischer Flüchtling.
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