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Über die Zukunft der Fachliteratur

Woher wir künftig unsere Erkenntnisse nehmen. Ein Essay von Markus J. Sauerwald, RWS Verlag.

 

Der Rechtsanwalt Markus J. Sauerwald (Foto: Julia Malcher), geboren 1963, ist seit 25 Jahren im juristischen Fachverlagswesen engagiert, zunächst beim Carl Heymanns Verlag, später bei Wolters Kluwer Deutschland und seit 2007 als Verlagsleiter beim Kölner RWS Verlag Kommunikationsforum. Dort verantwortet er alle digitalen und gedruckten Produkte des Verlages.

Halt! – Noch eine Frage“, – rief ich – „bevor wir weitergehen: Tun Ihre Menschen denken?“ „Nein!“ rief er sofort – das haben wir glücklich abgeschafft!“ 

In Oskar Panizzas wiederentdeckter Erzählung „Die Menschenfabrik“* berichtet der Autor von einem Wanderer, der nachts vor ein rätselhaftes Gebäude gelangt. Als ihm geöffnet wird, erwartet ihn ein Ort des Schreckens: Eine Menschenfabrik. Stolz werden ihm die gebauten Maschinen präsentiert, die sich nicht im Geringsten von ihren lebendigen Vorbildern unterscheiden und doch viel effizienter und viel besser sind … Panizzas Text stammt aus dem Jahr 1890. 

Ähnlich erging es mir, als ich rund 120 Jahre später eine moderne Anwaltskanzlei betrat: Papierlos und aufgeräumt, Menschen an großen Bildschirmen, die von Programmen gefertigte Schriftsätze prüften. Eine „Schriftsatzfabrik“? – Ich erschrak. Dem Ort fehlte etwas, Individualismus, Eigenschöpferisches, eine sichtbare Quelle der Erkenntnis, etwa ein Buch ..? Stehen wir vor einem Zeitalter, wo Wissen produziert und das Denken abgeschafft wird, wo wir nicht selber lesen, sondern lesen lassen? 

 

Digitale Arbeitsformen verdrängen klassische Fachinformation

In modernen Arbeitsformen ist – so scheint es – das Buch als papiergebundene Information ein Systembruch, ein in automatisierte Arbeitsabläufe nicht mehr natürlich einzubettendes Medium. Das verändert das traditionelle Fachinformationsgeschäft. Gesetze sind heute im Nu im Netz verlässlich dokumentiert nachschlagbar, Datenbanken liefern einfach zu recherchierende Informationen schnell an den Bildschirmarbeitsplatz. Die Ausstattung heutiger Büros orientiert sich an den Bedürfnissen des digitalen Arbeitens. Personalisierte Zugänge erlauben es, die stationäre Arbeit auf anderen Geräten nahtlos fortzusetzen. Diese Veränderungen gehen tiefer als der Medienwechsel vom Buch zum Datenträger vor 25 Jahren. Datenbanken scheinen das Buchgeschäft zunehmend abzulösen. 

Für Fachbuchhandlungen und Fachverlage teilt sich die Zielgruppe ihrer Kunden beziehungsweise Leser in drei Gruppen: 

  •  klassische Leser
  •  Hybridleser
  •  Digital first.

 Die Gruppe der klassischen Leser hat eine starke Bindung an die bisher angebotenen, papiergebundenen Fachinformationen und behauptet sich auch (noch) gegen die Umstellung auf die digitalen Informationswege. 

Hybridleser haben den Wandel zu modernen Arbeitsformen vollzogen, kennen aber noch die „alte Welt“. Sie suchen die digitalen Ausgaben der von ihnen favorisierten Fachbücher aus ihrem gewohnten Universum. Sie öffnen sich aber auch schon für andere Quellen der Information, wie zum Beispiel Open Access, also der freie Zugang zu wissenschaftlicher Literatur über qualifizierte Plattformen im Internet. 

Digital first ist eine neue, stärker werdende Kundengruppe. Sie entwickelt rein digitale Arbeitsformen mit konfektionierten EDV-Lösungen (Legal Tech), die juristische Prozesse gänzlich automatisiert erledigen. Klassisches Fachwissen wird in die Programme „eingespeist“. Diese Gruppe ändert den Markt vollständig, weil sie bestehende Informationswege, Technologien und Beratungsangebote in Frage stellt, sie vollständig verändert oder durch neue Ansätze gar verdrängt. 

In Zahlen lässt sich diese Entwicklung im Fachbuchhandel und in Verlagen ablesen:

  •  Mehrfachbezüge entfallen, insbesondere bei überört­lichen Kanzleien, d.h. die gedruckten Auflagen sinken.
  •  Online-Nutzung von Werken ist eine inzwischen etablierte Arbeitsweise. Sie entspricht modernen Arbeitsformen im Hinblick auf Zugänglichkeit, Recherche-Möglichkeiten und Weiterverarbeitung.
  •  Wissenschaftliche Veröffentlichungen verlagern sich, nicht zuletzt im Zuge von Open Access, in zunehmendem Maße auf – anerkannte wie auch illegale – Plattformen im Internet oder Bibliotheken.

Bedeutet dies, dass alle wichtigen Erkenntnisquellen, mit denen Juristen in der Vergangenheit gearbeitet haben, mittel- bis langfristig überflüssig werden, weil die Fachinformationen in anderer Weise oder auf anderen Wegen bezogen und durch künstliche Intelligenz verarbeitet werden?

 

Macht künstliche Intelligenz unsere Erkenntnisquellen überflüssig?

Soweit eine Sozialisierung in bisherigen Arbeitsumgebungen stattgefunden hat, können Verlage noch darauf setzen, dass ihre Standardwerke bei den Gruppen der klassischen Leser und der Hybridleser weiter nachgefragt werden, im wachsenden Maße in der digitalen Ausgabe. Die Bücher sind hier noch die Werkzeuge, ohne die die Arbeit nicht vorstellbar ist. Auch wer seine Arbeitsweise auf digitales Arbeiten umstellt, tut dies in der Vorstellung, seine bisherige Welt in die neue mitzunehmen.

 Was aber, wenn eine Kundengruppe wie die der Digital first diese Erkenntnisquellen der Vergangenheit nicht mehr nutzt, Neuerungen in anderer Form aufnimmt und in die von ihr genutzten Programme einspeist? Könnte es sein, dass Programme wie IBM Watson Texte nicht nur verstehen, sondern „intelligent“ verfassen können, die bislang noch von menschlichen Autoren erstellt worden sind? Die Antwort auf beide Fragen hängt damit zusammen, welche Fähigkeiten wir der künstlichen Intelligenz zutrauen und was sie (perspektivisch) zu leisten imstande ist.

 

IBM Watson

Watson ist ein marktreifes Computerprogramm im Bereich der künstlichen Intelligenz. Es wurde von IBM entwickelt und war zunächst nur über dessen eigenen Cloud-Service nutzbar. Jüngst hat der Konzern aber angekündigt, einige Watson-Dienste auch für Cloud-Wettbewerber wie Amazon Web Services und Azure freizugeben. Kunden können Watson zudem in eigenen Datenzentren nutzen. Mögliche Einsatzgebiete sind:

  • automatische Erfassung, Verarbeitung und Katalogisierung von Daten
  • automatische Metadaten-Erstellung
  • Konvertierung von Audioaufnahmen und Sprache in geschriebenen Text
  • Chatbots und virtuelle Assistenten
  • Machine- und Deep-Learning-Modelle

 

Das Recht ist dynamisch und spiegelt die ständigen, unvorhersehbaren Wandlungen unserer Gesellschaft wider. Algorithmen, die allen Programmierungen der künstlichen Intelligenz zugrunde liegen, stellen hingegen bekannte Handlungsmuster nach und übertragen diese auf vergleichbare Fälle. Künstliche Intelligenz ist nach derzeitigem wissenschaftlichem Stand nicht in der Lage, schöpferisch zu sein.

 Fachinformation dagegen berührt noch unbekannte Sphären, bereitet den Weg für neue Problemlösungen, setzt sich mit widerstreitenden Standpunkten auseinander. Klassische Fachinformation bewegt sich da, wo es noch keine Handlungsmuster gibt. Sie lotet aus, trifft Annahmen, gestaltet.

 Es erscheint heute auch Experten auf dem Gebiet der künstlichen Intelligenz nicht vorstellbar, dass die Auseinandersetzung und die Diskussion von Meinungen durch Programme erfolgt und der beobachtende Jurist diesem Schauspiel lediglich kontrollierend oder behutsam eingreifend beiwohnt. Der Mensch wird seine aktive Rolle weiter behalten. Fachinformationen werden dort, wo Handlungsmuster fehlen und Neues erdacht werden muss, weiterhin unersetzlich bleiben.

 

Fachinformation der Zukunft – und wie sie aussehen könnte

Künstliche Intelligenz endet also da, wo der Mensch kreiert, mit Empathie handelnd die Geschicke gestaltet und kein vorgefertigtes Programm „abspult“, kurz: wo der Mensch denkt, d.h. aus einer inneren Beschäftigung mit Vorstellungen, Erinnerungen und Begriffen eine Erkenntnis zu formen versucht.

  • Abgeschlossene Darstellungen in Handbüchern zu einem Themenkomplex werden daher wie bislang dazu beitragen, einen systematischen Zugang zu einem Themenkomplex zu gewinnen und Problemlösungen zu erarbeiten (Kreativitätskatalysator).
  •  Klassische Kommentarwerke werden weiterhin kulturell gewachsene Werkzeuge zum Verständnis und Zugang rechtlicher Regelungen sein.
  • Wissenschaftliche Abhandlungen werden sich wie gehabt mit Neuem auseinandersetzen und so neue Sichtweisen fördern.

Parallel dazu wird aber auch die technische Aufbereitung des Wissens für Fachverlage weiterhin von großer Bedeutung sein und mit über ihre Wettbewerbsfähigkeit entscheiden, denn die Ansprüche hieran verändern sich laufend. Es gilt, zeitgemäß das Einspeisen in technische Systeme (z.B. Legal-Tech-Lösungen, Sprachausgabe etc.) zu ermöglichen und die Bedienung aller denkbaren Kanäle sicherzustellen – auch solcher, von denen wir heute noch nichts ahnen. Dies wird das Spektrum der Angebotsformen immens erweitern. Und es stellt eine große Herausforderung sowohl für Verlage als auch den Fachbuchhandel dar:

  • Fachverlage müssen Programm- und Darstellungskonzeption auf verschiedene Nutzungen hin ausrichten. An die Benutzerführung eines Formularbuchs, dessen Dokumente in Kanzlei-Software weiterverarbeitet werden, stellen sich beispielsweise andere Ansprüche als an eine rein deskriptive Darstellung, die sich für eine mögliche Sprachausgabe eignet.
  • Fachbuchhändlern muss es gelingen, über den klassischen Produktverkauf hinaus weitere Dienstleistungen anzubieten, die es ihren Kunden ermöglichen, die benötigten Informationslösungen, die aus verschiedensten Quellen gestellt werden können, kundenfreundlich zu bündeln, und sich für diesen Service bezahlen zu lassen.

Der Wanderer von Panizza, der in Abgründe zu schauen schien, verließ die Menschenfabrik mit einer beruhigenden Erkenntnis, die hier nicht vorweggenommen werden soll. Nach meinem Besuch in der „Schriftsatzfabrik“ und aus den anschließenden Gesprächen mit der Gruppe der Digital-first-Advokaten konnte ich folgenden, tröstlichen Schluss ziehen:

Dieser Beitrag stammt aus dem buchreport.spezial RWS
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Am Ende wird der moderne Anwalt oder Berater in der Praxis in einem anspruchsvollen Sachverhalt mit dem Mandanten keine Lösung in der digitalen Schublade finden. Vielmehr wird er die spezifischen Bedürfnisse seines Mandanten erkennen und selbst eine maßgeschneiderte Lösung erarbeiten müssen. In Verhandlungen vor Gericht oder mit der gegnerischen Partei wird er seine menschlichen Stärken zur Geltung bringen. Zur Erarbeitung der Lösung werden Impulse außerhalb des Systems, unter anderem Fachinformationen, beitragen und ihn zu einer Erkenntnis außerhalb von Algorithmen gewonnenen Lösungen führen. Das macht den Menschen der künstlichen Intelligenz überlegen. Er kann sein Denken nicht abschaffen. Um etwas zu verändern, muss er selbst formulieren.

Ohne Quellen der Erkenntnis geht es für den selbstbestimmten Menschen nicht. Wege, Stil und Darbietungsform werden sich jedoch an die Gegebenheiten der Zeit dramatisch anpassen. Verlage werden daher ihre Geschäftsmodelle verändern sowie sich auf die Inhalte konzentrieren müssen, die künstlicher Intelligenz nicht zugänglich sind, der Handel wird seinen Kunden im besten Sinne die vielfältigen Wege dorthin in optimaler Weise zeigen, sie verkaufen und verwalten.

Markus J. Sauerwald

* Oskar Panizza: „Die Menschenfabrik“
64 S., 14 Euro, Hoffmann und Campe, ISBN 978-3-455-00581-3

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