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Überraschend bieder

Was finden Frauen an „Shades of Grey“ so anziehend, dass sie millionenfach die Geschichte kaufen? Der Sex könne es nicht sein, schließlich sei der Text „überraschend bieder“, wundern sich die Feuilletonisten. Und finden trotz sprachlicher Defizite noch viel Interpretationsspielraum. Die Rezensionen zu dem Bestseller „Shades of Grey“ (Goldmann Verlag) der Autorin E.L. James kurz zusammengefasst: 

Keine sprachlichen Höhepunkte“

Die „Welt“ (9.7.) bemängelt vor allem die Übertragung ins Deutsche, durch die viel verloren ginge. Protagonistin Ana habe dadurch die „Unentschlossenheit einer Gouvernante, die gerade beschlossen hat, sich in Lackpumps zu zwängen, die halterlosen Netzstrümpfe dann aber lieber weglässt. Mal wirke sie „zwinkernd wie ein Frauenzeitschriftenratgeber, mal antiquiert“. 
Es werde überdeutlich, dass die erste Version der Geschichte aus gebloggten Storys bestand, die von einem australischen Kleinverlag zum Buch gemacht wurden, kritisiert Mara Delius. Sprachlich handele es sich um einen Text, „in dem immer irgendwo eine Duftkerze brennt, während sich im nächsten Moment ein strengbebrilltes Über-Ich hineinschiebt, um sie wieder auszupusten.“. Fazit: „Es geht um Sex. Es gibt keine sprachlichen Höhepunkte.“
Vor allem gehe es in „Shades of Grey“ um Sex in allen Varianten, schreibt der „SPIEGEL“ (9.7.). „Keine besonders elegante, eine eher effektive Prosa.“ Das Merkwürdige an diesem „angeblich so schmutzigen Buch“ sei seine Sauberkeit: „Die Bondage-Szenen sind rar, die erste Sexszene lässt überhaupt hundert Seiten auf sich warten, und der angeblich so dunkle Christian Grey ist doch vor allem ein wahnsinnig fürsorglicher Liebhaber, der die Arnika-Salbe nicht vergisst, nachdem er Anastasia den Arsch versohlt hat“.

Wenn „Shades of Grey“ also ein Porno sei, dann sei das Buch ein Kapitalismus-Porno, heißt es im „SPIEGEL“ weiter, – dank der Regeln und Verträge, und der geforderten Selbstverbesserungsmaximen einer funktionierenden Marktwirtschaft. „Shades of Grey“ sei aber noch in anderer Hinsicht das Beispiel eines sich verändernden Kapitalismus: „Die Texte entstanden an den großen Verlagen vorbei im Internet, der bisher erfolgreichste Fall von Liquid Literature“.

„Wie eine kaputte Schallplatte“

Es werde genügend Re­zensionen geben, die darauf hinweisen, dass der Roman nicht gut sei, fasst Kathrin Passig im „Focus“ (9.7.) zusammen. Dies sei nicht schwer, denn Handlung gebe es praktisch keine, und „die Textbausteine wiederholen sich derart, dass der Verlag die Übersetzerinnen vermutlich nur für 300 der 600 Seiten bezahlt hat. Allein im ersten Band errötet Ana 125mal, beißt sich 35-mal auf die Lippen, und gemeinsam schnappen beide Haupt­fi­gu­ren 46-mal nach Luft“. 
„Das Buch ist wie eine kaputte Schallplatte“, kritisiert auch die „Frankfurter Rundschau. Es fehle „Fifty Shades“ an allem, was Pornografie ausmacht: „Die Figuren sind nicht bloß Geschlechtsorgane auf Beinen, sie sind zwar Klischees, aber die Spannung zwischen ihnen, die ist eine Sache von Kopf und Herz.“ Warum das Buch ein so gigantischer Bestseller sei? „ Es ist das erste Buch, das der Verhandlungsmoral einen breiten Raum gibt“, indem alle erlaubten Sexpraktiken vorher vertraglich abgesichert wurden. Mit dem Fazit, dass der Mainstream dank „Fifty Shades of Grey“ noch lerne, dass wir frei sein, „wenn wir die Freiheit miteinander aushandeln“, findet Rezensent Malte Welding doch noch eine tiefere Botschaft. 
„Shades of Grey“ vereine alle Bestandteile des minderwertigen Unterhaltungsromans, kritisiert das „Hamburger Abendblatt“ (7.7.): „Er ist auf Effekte aus, türmt Klischee auf Klischee, ist schnell, handlungs­reich und plump. Eigentlich besteht er nur aus Dialogen und sehr viel Sex, ist also sehr ermüdend.“

„Keine Bedrohung für nichts und niemanden“

„Das typisch konservative Weltbild jedenfalls bringt diese Trilogie ganz bestimmt nicht ins Wanken“, schreibt die „Frankfurter Allgemeine Zeitung. „Shades of Grey“ sei ein Softporno mit „reaktionärem Weltbild, der die Ausschweifung benutzt, um dieses Weltbild zu stabilisieren. Das ist alles. Mit selbstbewussten Frauen, die sich heute so dringend wieder unterwerfen wollen, hat das Buch nichts zu tun.“
Die „Süddeutsche Zeitung“ (7.7.) hat noch einen ganz anderen Kritikpunkt entdeckt: Das Buch stecke voller Schleichwerbung. „Den Auto- und Mobiltelefonmarken gesellen sich Macs, iPads, iPhones und Klamotten von Ralph Lauren hinzu sowie die Monsterfirmen Amazon (wo man Bücher bestellt, wo sonst) und Google, vom obligatorischen Moët nicht zu reden.“ 
Das Interessanteste an „Shades of Grey“, das sich trotz der SM-Szenen überraschend bieder liest, sei wohl, wie es überhaupt zu einem solchen Riesenerfolg werden konnte, heißt es in der „Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung“ (8.7.). Und weiter: „Shades of Grey“ sei „bestimmt keine Absage an den Feminismus, kein Rückschritt in Sachen Gleichberechtigung, keine Bedrohung für nichts und niemanden“. Es ist eine unbeholfen geschriebene Liebesgeschichte, die ziemlich viel davon erfüllt, was Frauen sich gemeinhin so wünschen, unter anderem einen Mann, der so gut wie nichts unversucht lässt, seiner Partnerin Freude zu bereiten, oder sagen wir ruhig: Lust.“

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