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„Verrat und Feindschaft hinter 140 Zeichen“ (SPIEGEL ONLINE)

Twitter ist gerade einmal sieben Jahre jung und eines der schillerndsten Internetunternehmen überhaupt. Mit 140 Zeichen und in Echtzeit wird der Kurznachrichtendienst genutzt für zeitgeistige Szenenews, brandaktuelle Unternehmensnachrichten und für politischen Protest, der die Welt bereits verändert hat. Viele Menschen sind der Meinung, dass Twitter den arabischen Frühling ausgelöst hat, was einer der Gründe für das sympathische Image des Unternehmens ist. Das amerikanische Start-up mit der kometenhaften Erfolgsgeschichte ist ein 11,5-Milliarden-Dollar-Geschäft mit 200 Millionen aktiven Usern. Doch wie sieht es hinter der Fassade des Unternehmens aus?

„Bilton hat einen echten Opens external link in new windowTwitter-Thriller geschrieben, sein Buch ist keine trockene Unternehmensbiografie, sondern erzählt wie ein spannender Roman“, schreibt der campus Verlag, in dem Biltons Buch mit „E-Book inside“ erschienen ist.

Leseprobe

„Raus“, sagte Evan Williams zu der Frau, die im Türrahmen zu seinem Büro stand. „Ich muss mich übergeben.“

Sie trat einen Schritt zurück und schloss die Tür mit einem metallischen Klicken, das durch den Raum hallte, während er mit feuchten, zittrigen Händen nach dem schwarzen Papierkorb in der Ecke seines Büros griff.

Das war’s. Seine letzte Handlung als Vorstandschef von Twitter war, sich in einen Papierkorb zu übergeben.

Eine Weile kniete er in seiner dunklen Jeans auf dem groben Teppichboden, bevor er sich an die Wand lehnte. Draußen raschelte der kalte Oktoberwind in den Bäumen der Folsom Street. Verkehrsrauschen mischte sich mit gedämpften Gesprächen vor seiner Bürotür.

Kurz darauf sagte jemand seiner Frau Sara, die ebenfalls bei Twitter arbeitete, Bescheid: „Mit Ev stimmt was nicht.“ Sie eilte in sein Eckbüro. Ihre üppigen dunklen Locken wippten leicht beim Gehen.

Sara warf einen Blick auf ihre Armbanduhr und sah, dass Ev nur noch 45 Minuten blieben, bis er vor die 300 Twitter-Mitarbeiter treten und ihnen die Neuigkeit mitteilen sollte. Sie öffnete seine Bürotür und ging hinein.

Ein Stück weiter den Korridor hinunter prüfte Twitters PR-Team den Blogeintrag, der um 11:40 Uhr auf der Webseite erscheinen sollte, sobald Ev seine Ansprache an die Mitarbeiter beendet, dem neuen Vorstandschef das Mikrofon gereicht und die Macht mit einer simplen Geste übergeben hätte, als reiche er einen Staffelstab weiter.

Der Blogpost…

… den Tausende Presseabteilungen und Blogs weltweit aufgreifen würden, verkündete freudig, dass das vier Jahre alte soziale Netzwerk Twitter mittlerweile 165 Millionen registrierte Nutzer habe, die täglich erstaunliche 90 Millionen Tweets sendeten. Fünf Absätze weiter stand, der gegenwärtige Vorstandschef Evan Williams trete auf eigenen Wunsch zurück.

„Ich habe beschlossen, unseren Geschäftsführer Dick Costolo zu bitten, Twitters Vorstandschef zu werden“, hieß es in dem Beitrag, der angeblich von Ev stammte.

Das war natürlich nicht der Fall.

Ev saß auf dem Boden seines Büros, umklammerte einen Papierkorb und verspürte absolut nicht den Wunsch, dies mitzuteilen. Der Farmerssohn aus Nebraska, der zehn Jahre zuvor mit kaum mehr als zwei Reisetaschen voller billiger, abgetragener, zu großer Kleider und zigtausend Dollar Kreditkartenschulden nach San Francisco gekommen war, wollte Chef des Unternehmens bleiben, das er mitgegründet hatte. Aber das würde nicht passieren. Es spielte keine Rolle, dass er mittlerweile über 1 Milliarde Dollar besaß und nur für Twitter gelebt hatte. Er hatte keine Wahl: Leute, die er eingestellt und früher zu seinen engsten Freunden gezählt hatte, und einige Investoren, die das Unternehmen finanziert hatten, hatten ihn in einem üblen Coup des Verwaltungsrats von der Spitze verdrängt.

Als Sara hereinkam…

… schaute Ev auf. Er wischte sich mit dem Ärmel seines Sweatshirts über seine dunklen Bartstoppeln.

„Hey, was hast du denn? Wie fühlst du dich?“, fragte Sara.

„Beschissen“, antwortete er und war sich nicht sicher, ob es an seinen Nerven lag oder ob er etwas ausbrütete. Vielleicht beides.

Um die Ecke teilte Biz Stone, einer der vier Mitbegründer von Twitter, den Mitarbeitern gerade in einer E-Mail mit, dass für 11:30 Uhr eine Betriebsversammlung in der Cafeteria anberaumt sei. Die Teilnahme sei verpflichtend; Gäste seien nicht zugelassen. Es gebe nichts zu essen, aber wichtige Neuigkeiten. Er klickte auf „senden“, stand vom Schreibtisch auf und machte sich auf den Weg zu Evs Büro, um seinen Freund und langjährigen Chef aufzumuntern.

Jason Goldman, der Twitters Produktentwicklung leitete und zu Evs wenigen Verbündeten im siebenköpfigen Verwaltungsrat gehörte, saß bereits auf der Couch, als Biz hereinkam und sich neben ihn setzte. Still trank Ev aus einer Flasche Wasser, starrte niedergeschlagen in die Ferne und ließ in Gedanken den Wirbel und Wahnsinn der vergangenen Woche Revue passieren.

„Weißt du noch …“, versuchten Goldman und Biz im Chor, Ev mit launigen Erinnerungen an die vergangenen Jahre bei Twitter aufzuheitern. Es gab unzählige Anekdoten: Einmal war Ev als Gast in der Oprah Winfrey Show aufgetreten und hatte sich nervös und linkisch vor Millionen Fernsehzuschauern präsentiert. Der russische Präsident war einmal im Schutz von Scharfschützen und Geheimdienst in die Firmenzentrale gekommen, um seinen ersten Tweet zu senden, und genau in dem Moment war die Webseite ausgefallen. Einmal hatte Al Gore Biz und Ev zum Abendessen in seine Suite im St. Regis eingeladen, und während der ehemalige Vizepräsident der USA die beiden zu überreden versucht hatte, ihm einen Anteil an Twitter zu verkaufen, hatten sie sich „total volllaufen lassen“. Abstruse Kaufangebote hatte es auch von Ashton Kutcher an seinem Pool in Los Angeles und von Mark Zuckerberg bei unbehaglichen Gesprächen in seinem spärlich möblierten Haus gegeben. Kanye West, will.i.am, Lady Gaga, Arnold Schwarzenegger, John McCain und unzählige andere Prominente und Politiker waren manchmal unangemeldet in der Zentrale aufgetaucht, hatten gerappt, gesungen, gepredigt, getwittert (einige waren sogar high oder betrunken gewesen) und zu begreifen versucht, wie dieses merkwürdige Etwas, das die Gesellschaft veränderte, sich kontrollieren ließe oder wie sie sich einen Anteil daran sichern könnten.

Ev rang sich ein Lächeln über die Geschichtchen seiner Freunde ab und bemühte sich nach Kräften, die Trauer und Niedergeschlagenheit in seiner Miene zu kaschieren.

Es gab einen…

… dem es vielleicht hätte gelingen können, Ev zum Lächeln zu bringen: der Mann, der gerade im Büro nebenan mit gesenktem Kopf auf und ab ging und das Telefon ans Ohr presste. Dick Costolo, der ehemalige Stand-up-Comedian, der mit Steve Carell und Tina Fey auf der Bühne gestanden hatte. Eben der Dick Costolo, den Ev „beschlossen hatte zu bitten“, Twitters neuer Vorstandschef zu werden, der dritte Chef eines erst vier Jahre alten Unternehmens.

Aber auch Dick war nicht in leutseliger Stimmung. Er besprach gerade mit den Verwaltungsratsmitgliedern, die an dem Coup beteiligt waren, den Wortlaut des Blogeintrags, der bald an die Medien gehen sollte, und seine Ansprache an Hunderte Twitter-Mitarbeiter, sobald er das Mikrofon von Ev übernehmen würde.

Er ging auf und ab, während sie den nächsten Schritt planten: die Rückkehr von Jack Dorsey, dem ersten Vorstandschef und Mitbegründer von Twitter, den Ev 2008 in einem ähnlichen Machtkampf von der Unternehmensspitze verdrängt hatte. An diesem Vormittag hatte Jack eigentlich mit seiner Rückkehr in die Firma gerechnet, die er bis zu seiner Absetzung wie ein Besessener aufgebaut hatte.

Aber einige Stunden zuvor hatte der Verwaltungsrat Jack mitgeteilt, dass seine Rückkehr zu Twitter nicht an diesem Tag stattfinden, sondern sich erneut verzögern sollte. Während der Ereignisse dieses Vormittags war Jack nur einige Häuserblocks entfernt in seinem Büro bei dem mobilen Bezahldienst Square, den er kürzlich gegründet hatte.

Nachdem er in seinem Penthouse…

… an der Mint Plaza aufgewacht war, das von Sichtbeton dominiert war, hatte er zur Arbeit das mehrere Tausend Dollar teure Outfit angezogen, das mittlerweile zu seinem Markenzeichen avanciert war: ein elegantes Dior-Hemd, dunkles Jackett und Rolex-Uhr. Das Ensemble unterschied sich drastisch von dem ungepflegten T-Shirt und der schwarzen Mütze, die er getragen hatte, als man ihn zwei Jahre zuvor aus Twitter verdrängt hatte.

Aber auch wenn seine Aufmachung an diesem Morgen eine andere war, empfand er noch dieselbe Verachtung für seinen früheren Freund und Twitter-Mitbegründer Ev, der Jacks geplante Rückkehr in das Unternehmen vereitelt hatte. Ev war zwar erfolgreich als Vorstandschef abgesetzt, aber nicht, wie ursprünglich geplant, rundheraus gefeuert worden. Zumindest noch nicht.

In der Twitter-Zentrale schaute Ev auf, als es auf 11:30 Uhr zuging. Zeit, zu gehen.

Ev hatte keine Ahnung, dass er in einigen Monaten gar nichts mehr mit dem Unternehmen zu tun haben würde. Biz und Jason folgten ihm den Korridor entlang, wie sie es jahrelang getan hatten, nicht ahnend, dass man auch sie zu gegebener Zeit aus dem Unternehmen drängen würde.

Schweigend gingen sie in die Firmencafeteria, vorbei an bunten Wänden, weißen Freischwingern und ratlosen Mitarbeitern, die sich einen Sitzplatz suchten. Keiner der Twitter-Mitarbeiter wusste, was sie von ihrem beliebten Chef, Evan Williams, zu hören bekommen würden. Sie hatten keine Ahnung, dass das Unternehmen, für das sie arbeiteten und das die Welt in vielfältiger Hinsicht verändert hatte, im Begriff stand, sich selbst für immer zu verändern.

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