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Verstreutes Puzzle, müde Klammern

E-Book-Apologeten wie Robert Nell von Sony
sind in diesem Jahr die Protagonisten der Messe.

Die Zentrifugalkräfte in der Branche nehmen mit digitalen Produkten und Vertriebswegen zu. Gewachsene Rollenverteilungen lassen sich nur bedingt auf die neuen Geschäfte übertragen. Die Digitalisierung als Transfer vom Buch in neue Formate ist nur eine Übergangserscheinung. Eine Analyse.

In dieser Woche ist auf dem Frankfurter Messe-Parkett mit „der Buchbranche“ ein Phantom zu beobachten: Nie waren die zusammenhaltenden Branchenklammern lockerer, nie die Branchen-Puzzlestücke bunter verstreut:

  • Die Spreizung der Produkttypen und die beschleunigte Loslösung vom Papier strapaziert das herkömmliche Verständnis des Buchmarktes, dessen Lieferanten (Verlage) sich zunehmend „medienneutral“ organisieren.  
  • Durch Digitalisierung der Inhalte und Vertriebswege überschneiden sich die Medienbranchen immer mehr: Wo beginnt und endet der Buchmarkt, wenn auch der Charakter des abgeschlossenen Werks nicht mehr konstituierend ist?
  • Die Interessen der Verlagstypen im Spektrum Fachinformation bis Bestseller-Roman streben immer stärker auseinander, was sich künftig beim Pro und Contra Preisbindung für elektronische buchnahe Produkte noch stärker zeigen wird.  
  • Die Gestaltung der Kundenbeziehungen verändern sich in der gesamten Branche, wenn sich Verlage immer mehr vom reinen Inhalte-Anbieter zum Community-Manager weiterentwickeln.
  • Der stationäre Buchhandel, der sich in seinen Flächen mächtig aufgeplustert hat, sucht sich immer mehr zusätzliche Produkte, um rückläufiges Kerngeschäft zu kompensieren, mit der Gefahr des Profilverlustes; während der Online-Handel bei seinem Sortimentsmix weder Kompetenzverlust noch Markenbeschädigung fürchten muss.
  • Der Fachbuchhandel hat ohnehin mit Datenbankdienstleistungen den Rahmen üblicher Buchhändlertätigkeiten gesprengt und neu definiert.

Die Verlage sehen sich getrieben

Die als großes Messe-Thema gehandelten E-Books werden die Auseinanderentwicklung der Buchbranche noch beschleunigen. Als die Frankfurter Buchmesse  kurz vor der Eröffnung mehr als 1000 Fachleute zum Trendthema Digitalisierung befragte, lagen die Ansichten zwangsläufig weit auseinander: 40% der Umfrageteilnehmer erwarten, dass der Absatz digitaler Inhalte in zehn Jahren das traditionelle Printgeschäft überflügelt haben wird, ein Drittel glaubt dagegen, dass diese Situation niemals eintreten wird. Und womöglich haben sogar beide Gruppen für ihren Buchmarkt recht.

Interessant ist die zusätzlich abgefragte Einschätzung der wichtigsten Treiber der Digitalisierung in der Buchbranche: Den größten Einfluss haben demnach die Verbraucher (22%), gefolgt von den Online-Größen Amazon (21%) und Google (20%) sowie die Telekommunikationsindustrie (13%). Dass die Verlage selbst die treibende Kraft sind, glauben nur 7%.

Herder geht in die E-Book-Offensive

Wenn klassische Buchverlage die Initiative ergreifen, kann dies allerdings ähnliche Erschütterungen auslösen, als wenn ein üblicher Verdächtiger wie Amazon den Markt aufmischt. Unmittelbar zum Start der Buchmesse hat die bisher bei Marketing-Innovationen wie E-Publishing nicht besonders auffällig gewordene Freiburger Verlagsgruppe Herder mit einem Billigangebot ein Zeichen gesetzt:  Auf der Homepage des Familienunternehmens können Bücher als PDF-Datei bereits für 1,19 bis 9,95 Euro heruntergeladen werden. Der durchschnittliche Preis soll bei 70% des Print-Ladenpreises liegen (mehr hier).

Das  Angebot umfasst insgesamt 182 Titel des Verlags Herder und des Kreuz-Verlags, darunter – so die Angebotscharakterisierung des Verlags – Top-Titel des laufenden Programms und Titel aus vergangenen Jahren sowie häufiger nachgefragte vergriffene Bücher, die auf diesem Wege wieder zugänglich gemacht werden. „Nach wie vor ist der Buchhandel unser wichtigster Partner, aber die Entwicklungen neuer Märkte nehmen wir ernst und stellen uns auf sie ein“, so Verleger Manuel Herder. Der Kunde wolle beides, das elektronische und das herkömmliche Buch: „Das ist wie mit der Kerze und dem elektrischen Licht“, sagte er dem „Handelsblatt“.

Transfer vom gedruckten Buch

PDF-Fassungen von Büchern sind nur der erste Schritt, so wie der Begriff der Digitalisierung eine Übergangszeit beschreibt, bei dem es um den Transfer vom analogen, gedruckten Buch in digitale Formate geht. Absehbar werden immer mehr Inhalte und Produkte folgen, die von vornherein anders angelegt werden, ohne das klassische Buch als Maßstab zu nehmen. Die Produkte werden individualisierbar, können vom Nutzer/Leser verändert und womöglich mit anderen Lesern/Nutzern interaktiv geteilt werden: Es geht nicht nur um eine 1:1-Übertragung mit Gewichtsersparnis, sondern um eine komplexe Erweiterung und Neuerfindung des Buches.

Wie dies mit den bewährten und weiter bestehenden Strukturen für herkömmliche Bücher kompatibel wird im Fluss vom Autor, Lektorat und Herstellung über Pricing und Vertriebswege, ist die große Herausforderung, von neuen Honorar-, Konditionen- und Provisionen sowie urheberrechtlichen Fragen ganz abgesehen.
 
Buchinhalte müssen mehr Convenience-Charakter haben

Der Sachbuch- und Ratgeber-Verleger Matthias Ulmer, einer der Vordenker der Branche, hat in der Oktober-Ausgabe des buchreport.magazins die Ungewissheiten eingestanden: Die Entwicklung der nächsten zehn Jahre werde so anders sein wird, dass er sie nicht voraussagen könne. Keine Rolle und Funktion sei mehr sicher. Ulmer:

  • Die Digitalisierung führe „zur Entwertung unserer Vertriebsleistung“. Ein Buch einer möglichst großen Zahl von Menschen an vielen Orten verfügbar zu machen, sei heute jedem möglich.
  • Die Verfügbarkeit im Netz ersetze die Macht, ein Buch zu besitzen.
  • Der Reiz des Materiellen reiche nicht mehr: „Wir haben jahrzehntelang davon profitiert, dass wir Kunden Bücher verkaufen konnten, die sie nicht brauchten. […] In den kommenden Jahren müssen wir anders, besser begründen, warum jemand unsere Werke kaufen soll.“

Entscheidend werde der Convenience-Faktor: „Aus Informationen müssen wir eine Tiefkühlpizza machen.

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