In der ersten Phase haben die Buchverlage ihre Printtitel eins zu eins ins digitale Format gehoben. Inzwischen komponieren Verlage wie Bastei Lübbe Programme, die auf digitale Medien zugeschnitten sind. Einen Einblick in die veränderte Herangehensweise wird Helmut Pesch, seit 1986 Lektor bei Lübbe und heute Programmleiter E-Publishing bei Bastei Entertainment, auf der TOC buchreport am 23. April in Berlin geben (mehr unter: buchreport.de/TOC).
Wenige Verlage arbeiten aktuell an genuin digitalen Formaten. Aus welchem Grund?
Es ist vielleicht das Gefühl: „Das ist nicht unser eigentliches Geschäft, nicht unsere Kompetenz“. Alle großen Verlage verfolgen eine Mischung aus offensiver und defensiver Strategie. Defensiv heißt: in den Bereichen, in denen der Markt kleiner wird, die Verluste zu minimieren und das Geschäft zu konsolidieren. In anderen Bereichen wie dem digitalen Buch muss man dagegen investieren, mit dem Nachteil, dass der Ertrag noch nicht die Investitionen abdeckt. Für solche strategischen Invest-Bereiche müssen Verlage Mut aufbringen, das heißt, wir dürfen keine Angst vor dem Wandel haben.
Welche Verlagsstrukturen wandeln sich durch die Digitalisierung?
Im digitalen Bereich sind die Rhythmen andere. Bei den Hardcover-Programmen gehen die Verlage schon tendenziell wieder in Richtung Monatsauslieferungen, wie es im Taschenbuch der Fall ist. Im digitalen Bereich entfällt selbst diese Fixierung auf Monate.
Wo sehen Sie saisonale Höhepunkte beim E-Book?
Zu Beginn der Urlaubssaison, wenn die Leser ihre Reader befüllen, und nach Weihnachten, wenn die ersten Inhalte auf die neuen Geräte geladen werden.
Was ändert sich noch?
Die Nachhaltigkeit: Wir können Titel länger lieferbar halten, sofern wir über die Rechte verfügen – ich kann eine Romanheftserie mit tausend Einzelfolgen auf einmal auf den Markt werfen und permanent verfügbar halten. Titel, die wir längst ausgeschöpft geglaubt haben, steigen durch Aktionen oder auch Zufälle in den Charts wieder nach oben. Weil wir keine Lagerkosten haben und auch im Preis flexibler sind, haben wir Möglichkeiten, die es im Buchhandel nicht gibt.
Welche Lektion haben Sie beim Pricing gelernt?
Als wir die Serie „Apocalypsis“ planten, hatten wir die Struktur einer Fernsehserie vor Augen: zwölf Folgen sind eine Staffel, drei Staffeln sollen es werden. Pro Staffel 600 Seiten Text, multimediale Inhalte, ein großartiger Roman – wir haben gedacht: Dafür können wir 20 Euro verlangen, den Preis eines Hardcovers. Ein Preis, der Umfeld des App-Stores nicht zu erzielen ist. Wenn man den Preis auf Einzelfolgen herunterbricht, sieht es anders aus: Über 0,99 Euro oder 1,49 Euro denken Kunden nicht groß nach. Erst dann haben wir gemerkt, dass wir den Serienroman gerade neu entdeckt haben – ein Geschäft, das der Verlag seit sechzig Jahren betreibt. Wir müssen darüber hinaus nach anderen Erlösmodellen suchen, zum Beispiel Werbefinanzierung, die im Verlagsbereich bislang atypisch sind.
In den USA florieren Portale wie „The Atavist“ oder „The Magazine“: kurze Inhalte, seriell produziert, zu einem extrem attraktiven Preis.
Ich rechne damit, dass auch hierzulande die Kurzgeschichte und die Novelle eine Renaissance haben werden. Bei einem Buch habe ich ein Problem, wenn der Umfang unter zweihundert Seiten liegt, weil dann die Ladenpreis-Kalkulation an Grenzen stößt, da Papier- und Lagerpreise sowie Vertriebskosten dem gegenüber zu hoch sind. Im digitalen Format habe ich die Möglichkeit, mit Texten jeden Formats zu arbeiten. Wir planen beispielsweise eine Reihe mit kürzeren Horrorgeschichten. Im Romanheft-Format ziehen nur noch bekannte Hauptfiguren und starke Markennamen, digital ist das Risiko viel kleiner.
Die E-Book-Shops sind für solche Formate nicht optimal. Welche Vertriebskanäle steuern Sie an?
Wir favorisieren eigene Apps bzw. einen eigenen Store, weil so Synergieeffekte möglich sind. Wir haben bereits eine relativ große Community im Buch.
Die sie gut mit Abos binden könnten.
Sicher, es muss die Möglichkeit geben, bei einer Serie mit jeder Ausgabe zu starten und für die nächsten Exemplare im Voraus zu zahlen.
Erwarten Sie einen verschärften Wettbewerb zwischen Zeitungs- und Buchverlagen?
Das ist spekulativ. Es gibt aber schon heute ein paar neue Player auf dem Markt. „ZDF Digital“ hat gerade die erste App für Random House entwickelt, auf Basis von Klaus Klebers Buch „Spielball Erde“. Es werden sicher Mitspieler aus anderen Medien in diesen Markt hineindringen, weil multimediale Elemente nicht nur von einer Seite aus bespielt werden können. Ein Teil der Strategie unseres Hauses besteht darin, dass wir uns den Medien annähern, die mit Bewegtbild arbeiten.
Lübbe hat zuletzt die Fernsehproduktionsfirma Family Entertainment TV gekauft und entwickelt sich immer weiter weg vom klassischen Medium Buch. Mit welcher semantischen oder strategischen Klammer?
Es gab da einen Paradigmenwechsel schon vor etwa zehn Jahren: vom Kerngeschäft zur Kernkompetenz. Das Kerngeschäft war Büchermachen. Vor fünf Jahren hatten wir neben dem Buch- einen Audio- und einen Zeitschriftenbereich. Heute umfasst der Buchbereich immer noch mehr als die Hälfte des Unternehmens, aber der Rest sind diverse Geschäftsfelder. Unsere Kernkompetenz besteht darin, Inhalte zu entwickeln, und unser strategisches Ziel, diese Inhalte so weit wie möglich zu verwerten. Mit digitalen Publikationen haben wir die Möglichkeit, schneller zu agieren – ich sage bewusst „agieren“ und nicht „reagieren“.
Mit Family Entertainment könnten Sie sogar selbst Fernsehformate zu Ihren Text-Serien wie „Coffeeshop“ machen?
Family Entertainment ist zum einen Produzent und wird als solcher auch Funktionen von Saxonia Media, unserem Kooperationspartner bei „Coffeeshop“, übernehmen. Darüber hinaus haben wir uns auf diese Weise auch einen Dienstleister in Sachen Grafik und Animation und das entsprechende Knowhow ins Haus geholt.
Um unabhängiger zu sein?
Ja, es ist ein Vorteil und die richtige Strategie, für solche Themen eine eigene Abteilung zu haben. Andere Verlage, die E-Books im Rahmen des Buchlektorats machen, haben Probleme, weil sie in alte Strukturen eingebunden sind.
Lübbe hat das Ziel ausgegeben, dass jedes Tablet weltweit mit einer vorinstallierten Lübbe-App ausgeliefert werden soll. Wie erreichen Sie dieses Ziel?
Wir sind da mit unseren Kooperationspartnern schon ziemlich weit vorangekommen. Unser internationales Geschäft beginnt gerade erst. Die ersten Versuche mit direkter Distribution unter unserem Verlagsnamen sind positiv gelaufen.
Für den internationalen Vertrieb haben Sie 2012 eine Kollegin eingestellt, die vorher im Musikvertrieb tätig war. Weshalb?
Weil die Branchen vergleichbare Probleme haben. Die Musikbranche hat mittlerweile ein Ertragsmodell gefunden, das funktioniert. Sie hat allerdings einige Jahre gebraucht, um den ersten Schock zu überwinden: die Erfindung von MP3, eine disruptive Innovation, die den Markt völlig verändert hat. Ich glaube zwar nicht, dass das beim E-Book der Fall sein wird. Aber wir gehen alle davon aus, dass das E-Book in wenigen Jahren ein Drittel des Buchmarktes ausmachen wird, und dieser Markt ist nicht auf den deutschen Sprachraum begrenzt.
Die Fragen stellte Daniel Lenz
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