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Wenke Bönisch: Bibliotheken sind sozialer und informativer Kitt unserer Gesellschaft

Wenke Bönisch: Bibliotheken sind sozialer und informativer Kitt unserer Gesellschaft

Vor einer Woche erschien bei Zeit online eine Kolumne von Kathrin Passig zur Zukunft öffentlicher Bibliotheken. Als passionierte Verfechterin der (kulturellen) Informations- und Mitmachmöglichkeiten durch das Internet war es schon vor der Lektüre klar, dass sie einen äußerst kritischen Blick auf die „Papierbibliotheken“ hat.

Nun hat sich zu diesem Beitrag eine heiße Diskussion in der Bibliothekswelt aufgetan (Beispiele hierhierhier und hier). Da ich mich schon länger mit dem Thema beschäftigte (hierhier und hier) und zudem eine passionierte Bibliotheksgängerin bin, möchte ich meine Gedanken zu Passigs Kolumne öffentlich machen. Sie kamen spontan über mich und kommen vielleicht da etwas ungeordneter her.

Zunächst fällt mir auf, dass Passig einen stark eingeschränkten Blick auf die Bibliothek als Teil der sogenannten Papierwelt hat, was für mich zum einen ein künstliches Argument für ihre kritische Sicht, zum anderen auch ein elementarer Fehler beim Blick auf die Aufgaben der Bibliothek in naher und ferner Zukunft bzw. eine Einschätzung ihrer Entwicklungsmöglichkeiten bedeutet. Bibliotheken verschiedener Couleur, vor allem die wissenschaftlichen, sind jedoch mehr als das. Sie sind schon fest im Digitalen verankert: sei es durch die diversen Angebote an Datenbanken zur Informationsvermittlung und –bewahrung, sei es durch Apps (Beispiel hier), sei es durch das Angebot virtueller Fachbibliotheken, die als Portale von Informationen über Literatursammlungen bis hin zu Stellenangeboten ein breites Spektrum bieten, oder das Angebot der Onleihe, mit dem Bürger diverse eMedien unkompliziert ausleihen können, sei es durch ihre Stoßkraft hinsichtlich des elektronischen Publizierens. Zu letzterem sind die Repositorien zu nennen, die in der Open Access Bewegung eine zentrale Rolle spielen. Es geht da sogar noch ein ganzes Stück weiter! Mit bibliothekseigenen Publikationsfonds oder sogar dem Herausbringen eigener Zeitschriften oder Schriftenreihen entwickeln Bibliotheken nun recht entschieden Verlagsdienstleistungen. Dass die Bibliothek der Technischen Universität in München aktuell einen Mitarbeiter zum Aufbau (!) eines Hochschulverlages sucht, ist ein Beleg für diese Entwicklungsrichtung.

Manchmal verfestigt sich bei mir sogar der Eindruck, dass sich Bibliothekare mehr Gedanken um die Zukunft des Publizierens hinsichtlich Metadaten, Formate, Urheberrecht, Verbreitung, Auffindbarkeit und Langzeitarchivierung machen – und zwar grundlegende – als Verlage. Auch übernehmen Bibliotheken in der Weiterentwicklung wissenschaftlichen Arbeitens – Stichwort: Zitierung beim elektronischen Publizieren – eine Vorreiterrolle ein.

Zweitens: Auf die seit Jahrhunderten gesammelte Erfahrung in der Klassifizierung und Einordnung von Informationen, die Bibliotheken haben, geht Passig überhaupt nicht ein. Ja, schaue ich auf meine Workshopteilnehmer oder mich in meinem Umkreis um, wie im Internet recherchiert wird, schüttele ich oft den Kopf. Die verschiedenen Suchvarianten sind vielen gar nicht bekannt. Sie geben ein, zwei Wörter in eine Suchmaschine ein, schauen auf die ersten vier, fünf Ergebnisse und im besten Fall finden sie, was sie suchen. Oder eben auch nicht. Kein Wunder, dass sich aus einem anderem Blickwinkel heraus betrachtet eine ganze Branche um das Auffinden von Informationen im Netz entwickelt hat, die Milliardenumsatz macht und wirtschaftlich für alle Bereich relevant ist – nämlich die Suchmaschinenoptimierung (SEO). Dass sich da leider auch schwarze Schafe tummeln, ist ganz klar und eine natürliche Entwicklung in solchen Prozessen.

Anders sieht es hier bei Bibliotheken, besser Bibliothekaren aus. Ihre Kernaufgabe ist eben das Recherchieren nach Informationen mit allen möglichen Hilfsmitteln. Und diese Kernaufgabe ist auch heute noch ihr größter Schatz. Diesen Trumpf sollten sie sich in der Diskussion nicht aus der Hand nehmen lassen! Alle Dozenten an Universitäten und Hochschulen werden mir den Nutzen von entsprechenden Einführungsveranstaltungen für Studenten, die Bibliotheken anbieten, bestätigen. Und da kommt nur ein kleiner Gesellschaftsteil in den Genuss einer solchen Anleitung. Wie sieht es denn da mit den Berufsschülern aus? Mit den Verkäufern, den Autohändlern, den Tierpflegern etc.? Wer hilft ihnen?

Drittens: Ein bisschen klang – natürlich unter skeptischen Vorzeichen – die Rolle nach dem sozialen Ort der Bibliothek in Passigs Beitrag an. Aber auch hier greift sie viel zu kurz. Mein größter Einwand: Ja klar stehen uns mit Flatrate, preiswerten Endgeräten und dem Internet die theoretisch unendlich vielen Informationsmöglichkeiten des Internets offen. Jedoch nur in Ballungsgebieten und Großstädten. Der Rest versinkt in „kein Netz” oder bestens „schwaches Netz”. Fahre ich von Dresden gen Hauptstadt, so habe ich auf der zweistündigen Reise 90 Minuten keinen Empfang. Problemlos setzt sich diese Ruhe auch auf einer Weiterfahrt gen Norden fort. Im Westen sieht es übrigens nicht anders aus. Nun könne man intensiv diskutieren, warum unsere Gesellschaft, die nach den Aussagen der Bundeskanzlerin auf dem Weg zur Wissensgesellschaft sein soll, da in so einem Funkloch steckt. Das ist ein anderes Feld. Nur zeigt es eben, wie theoretisch Passigs einfacher Informationszugang Internet tatsächlich ist.

Und da spielen Bibliotheken in der Grundversorgung der Bevölkerung einen wichtigen Beitrag: Auf dem Lande, in der Kleinstadt und ja, auch in der Großstadt. Übrigens wird ein Großteil der öffentlichen Bibliotheken, vor allem auf dem Lande, „dank“ klammer öffentlicher Kassen oder ungenügendem politischen Willen der entsprechenden Entscheidungsträger von ehrenamtlichen Mitarbeitern getragen. Ihre Arbeit ist zwar großartig, weil notwendig, aber dieser Zustand muss unbedingt kritisch, zumindest ambivalent hinsichtlich der Folgen von bibliothekarischen Kernkompetenzen betrachtet werden (ausführlichere Informationen finden Sie hier). Da hat sich schleichend ein unsäglicher Zustand statuiert, der von der Öffentlichkeit kaum zur Kenntnis genommen wurde und wird.

Der soziale Ort „Bibliothek“ ist auch ein gesellschaftspolitischer. Zwei Praxisbeispiele fallen mir spontan ein. Zum einen hat jeder Bürger dank der Bibliothek Zugang zur Informationen, unabhängig auch von seinen finanziellen Möglichkeiten. Die Bibliotheksgebühren sind hinsichtlich des Angebots und intensiver Nutzung eher symbolisch gemeint. Ich zahle für die städtische Bibliothek einen Jahresbeitrag von 10 Euro (!). Schaue ich mir an, was ich im Verlauf eines Jahres an verschiedenen Medien für meine Familie und mich ausleihe, dann lässt sich der Gegenwert gar nicht hoch genug beziffern. Darüber hinaus möchte ich noch auf die diversen Erlassungen von Bibliotheksgebühren für Menschen mit sehr niedrigem Einkommen hinweisen, denen so unkompliziert der Zugang zu Informationen und gesellschaftlicher Teilhabe gewährt wird.

Die Bibliothek ist aber auch für das tatsächliche soziale Leben in einer Gesellschaft ein wichtiger Ort. Wo finden denn Veranstaltungen wie Diavorträge oder Lesungen in einer Kleinstadt, auf dem Dorfe statt? In erster Linie in der Bibliothek, weil sie u. a. auch die räumlichen und technischen Möglichkeiten dazu hat. Und ja, ein reales Treffen ist für den geselligen Austausch dann doch etwas Anderes als ein virtuelles Treffen auf Facebook beispielsweise.

Darüber hinaus übernehmen mit den Vorleseveranstaltungen Bibliotheken auch für unsere nachkommende Generation eine wichtige Funktion. Sogenannte Lesepaten führen die Kleinen mit ihrem Engagement in die Welt der Bücher, der Medien, der Geschichten ein. Kindergartenkinder freuen sich auf solche Vorlesestunden. Da wird ihre Phantasie angeregt, ihre Sprach- und Denkwelt gefördert und alles in geselliger Runde! Da werden die Grundsteine für die spätere freudige Neugierde am Wissenserwerb und für unsere Wissensgesellschaft – der Leser mag mir diese Strapazierung des Wortes verzeihen – gelegt! An dieser Stelle möchte ich auf den 10. (!) bundesweiten Vorlesetag am kommenden Freitag erinnern. Die öffentliche Bibliothek ist also auch der soziale Kit einer Gesellschaft!

Viertens und letztens: Bibliotheken schonen auch die Ressourcen. Das mögen vielleicht Verlage jetzt nicht so sehr hören, aber das Ausleihen von Büchern hilft, Papier zu sparen. Natürlich ist dies eine nachgeordnete Funktion gegenüber den ersten dreien, aber vergessen darf man sie auch nicht.

Ganz zum Schluss möchte ich noch eine persönliche Episode erzählen. Dank eines zufälligen Stöberfundes in meiner örtlichen Bibliothek bin ich auf mein Hobby Seifensieden gestoßen. Hätte ich damals nicht das Buch in die Hand genommen, ausgeliehen und zuhause mit immer größerer Begeisterung gelesen, gäbe es heute meine kleine Seifenwerkstatt, die Dresdner Kreativwerkstatt, nicht! Bibliotheken fördern mit ihrem Angebot also auch Unternehmertum. 😉

Zur Person:

Wenke Bönisch arbeitet heute nach einer beruflichen Station in einem Wissenschaftsverlag (Autorenbetreuung, Satz und Social Media) als Freiberuflerin u. a. für den Ulmer Verlag, für die Frankfurter Buchmesse sowie für den Digitalisierungsdienstleister Editura im Social Media-Bereich. Neben Social Media beschäftigt sie sich mit den Themen elektronisches Publizieren, Wissenschaft, Open Access und Neue Medien. Zu ihren entsprechenden Projekten hält sie auch Workshops, Vorträge und Seminare. Unter den Namen @digiwis twittert sie (fast) täglich. Auf ihrer Website bloggt sie zu ihren Tätigkeitsschwerpunkten.

Der Text ist zuerst hier erschienen. Zweitveröffentlichung mit freundlicher Genehmigung der Autorin.

Kommentare

1 Kommentar zu "Wenke Bönisch: Bibliotheken sind sozialer und informativer Kitt unserer Gesellschaft"

  1. Vielen Dank für diesen großartigen Blogbeitrag, ich möchte
    in allen Punkten absolut zustimmen.

    Ich denke, wer die Bibliotheken als unveränderliches
    Papiermuseum bezeichnet, war vermutlich selbst schon länger nicht mehr dort. Und ob man im Internet ebenso Zufallsentdeckungen á la serendipity machen kann, wie in einer Bibliothek, hängt sicherlich auch von den eigenen Ansprüchen des jeweiligen Nutzers ab. Ich habe die Möglichkeit, in digitalen Datenbanken zu recherchieren und trotzdem gibt es
    genug Gründe dies mit dem Gang in die Bibliothek zu kombinieren. Oder ich recherchiere direkt dort vor Ort in Datenbanken und schaue parallel im Regal.

    Was mich am meisten an dieser und ähnlichen Diskussionen in
    Bezug auf das Internet stört, ist die Tatsache, dass häufig versucht wird, digital und analog gegeneinander auszuspielen. Wenn ich in eine Bibliothek gehe, bin ich ein digitaler Fortschrittsverweigerer oder Papier-Fetischist und gehöre zu den Menschen, die – früher – alles- so – viel – besser – fanden.
    Es wird darüber gestritten, ob ich nun vor meinem Browser mehr Neues entdecke oder in der Bibliothek.
    Wie verrückt ist das eigentlich und auf welchem Kindergarten Niveau befindet man sich hier? Leider gehören, meiner Meinung nach, genau diese einseitigen Denkweisen dazu, dass allzu oft in allen gesellschaftlichen Bereichen ein Graben aufgetan wird, zwischen der digitalen und der analogen Welt, statt beide
    miteinander zu verbinden. In den Diskussionen gibt es meist nur schwarz oder weiß, null oder eins – die gesellschaftliche und menschliche Wahrheit liegt aber glücklicherweise irgendwo dazwischen.

    „Aber das kann das Internet doch besser“ mag für viele Dinge das Totschlag- Argument sein, eine papierlose Suppenküche für Bedürftige vielleicht kurzfristig lebenserhaltender als die Staatsbibliothek und als Steuerzahler finde ich immer Projekte, für die ich viel lieber Steuern zahlen würde – dazu müsste ich nicht einmal in eine Parallelwelt eintauchen, sondern einfach nur in der Nachbarschaft schauen.
    Als Buchhändlerin lese und arbeite ich digital und analog – und
    gehe auch weiterhin ungetarnt in Bibliotheken, selbst wenn es mein Umfeld für albern hielte. Liebe Grüße aus Berlin, Anja Urbschat

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