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Wettbewerb um Qualität versus Friss oder stirb

Das Thema „Freie Bildungsmedien“ rückt in Deutschland auf die politische Agenda: Die Kultus- und Bildungsminister luden vor Kurzem zu einer Anhörung. Die Berliner SPD will freie Bildungsmedien für Grundschulen evaluieren. Was bedeuten solche Vorstöße für die Bildungsverlage? International gibt es solche Initiativen unter dem Schlagwort  „Open Educational Resources“ (OER) seit Jahren. Im buchreport-Interview (erschienen im buchreport-Spezial „Lernen & Wissen“, das hier zu bestellen ist), berichtet Jens Bammel (Foto), Generalsekretär der Verlegervereinigung International Publishers Association (IPA), von den bisherigen Erfahrungen. 
Müssen Bildungsverlage vor „Open Educational Resources“-Initiativen Angst haben?
Ja und nein. Politiker sind zunächst immer empfänglich für solche Modelle, die schick, modern und techonologieaffin aussehen. Wenn sie dann allerdings genauer hinschauen und sehen, welche Erfahrungen in anderen Ländern mit solchen Initiativen gemacht worden sind, nehmen sie auch schnell wieder Abstand davon und wenden sich vernünftigen Projekten zu, denn diese Initiativen sind bisher meistens spektakulär gescheitert.
Woran?
An dem grundsätzlichen Denkfehler, dass das Kreieren von Bildungsinhalten eine einfache Sache sei, bei der die Verleger keinen besonderen Mehrwert schaffen, sondern die genauso gut von einzelnen Experten und Autoren oder durch Crowdsourcing, Wiki-Initiativen und dergleichen erledigt werden kann. Der zweite Grund ist, dass diese Initiativen die nachfrageorientierte Arbeitsweise der Verlage durch ein staatliches Angebotsmonopol ersetzen. Aber wie der ehemalige US-amerikanische Außenminister Colin Powell einmal sehr treffend gesagt hat: „If you break it, you own it“ – wenn man etwas kaputt macht, gehört es einem. Mit anderen Worten: Wenn eine staatliche Initiative einen funktionierenden Bildungsmarkt zerstört, ist von da an der Staat selber dafür verantwortlich, dass Bildungsinhalte kontinuierlich in der nötigen Qualität zur Verfügung gestellt werden. Das kann er nicht gewährleisten. 
Was können die Bildungsverleger, was eine staatliche Stelle nicht kann?
Da gibt es mehrere Aspekte. Zunächst einmal gibt es kaum einen anderen Bereich im Publikationswesen, in dem die kreative Verlagsleistung gegenüber der Autorenleistung ein derart großes Gewicht hat. Schulbuchverleger bringen ja in der Regel das Team fachkundiger Autoren, Grafiker und Pädagogen überhaupt erst zusammen, das ein Schulbuch entwickelt. Abgesehen davon arbeiten die Verleger nicht in einem Vakuum, sondern recherchieren in enger Zusammenarbeit mit Lehrern sehr genau, was im Unterricht gebraucht wird. Dieses Wissen, das in vielen Tausenden Einzelgesprächen entsteht und weiterentwickelt wird, lässt sich nicht künstlich an einer zentralen Stelle erzeugen. Der dritte wertvolle Mehrwert der Verlagsarbeit besteht darin, dass es einen starken Wettbewerb unter den Anbietern gibt. Wenn eine zentrale staatliche Stelle die Inhalte bereitstellt, gilt dagegen das Prinzip „Friss oder stirb“. Der Anreiz, nach der bestmöglichen Qualität der Inhalte zu streben, entfällt.
Auf welche konkreten Beobachtungen stützen Sie diese Einschätzung?
Ein typisches Beispiel ist etwa die „Schwarzenegger-Initiative“ in Kalifornien, bei der Buchinhalte kostenlos zur allgemeinen Nutzung an den Schulen ins Internet gestellt wurden. Oder die Initiative NDLA der norwegischen Kommunen, die eine Art staats­eigenen Verlag gegründet haben, der digitale Lehrbücher entwickelt. Beide Projekte muss man als gescheitert ansehen. In Kalifornien hat man erstaunt festgestellt, dass es kaum eine Nachfrage nach den bereitgestellten Inhalten gab und man die Schulen ja auch noch mit der entsprechenden Hardware ausstatten muss, wofür kein Geld mehr da war. Durch die Initiative in Norwegen ist ein staatlicher Großverlag mit einer wuchernden Bürokratie entstanden, der enorme Geldmengen verschlingt. 
Können solche Initiativen in der Bildungsverlagslandschaft Schaden anrichten?
Teilweise erheblichen. In Norwegen ist der Bildungsmarkt nach Start der Initiative vor drei Jahren um fast ein Drittel eingebrochen. 
Sollten die Bildungspolitiker sich also lieber darauf konzentrieren, neue Technologien an die Schulen zu bringen?
Die Technologie muss der Pädagogik folgen, nicht umgekehrt. Es ist ein grundsätzlicher Denkfehler, dass man Bildungsprobleme technisch lösen kann und nicht in die Inhalte investieren muss. Im Rahmen des Projekts „One Laptop Per Child“ zum Beispiel wurden in den vergangenen 10 Jahren Unsummen ausgegeben, um weltweit mehr als 2,2 Mio Laptops zu verteilen. Eine Untersuchung der Inter-American Development Bank IADB hat vor Kurzem gezeigt, dass bei den Schülern nach Verteilung der Computer keinerlei Lernvorteile festzustellen sind. Hier in Europa haben die Untersuchungen im Rahmen der PISA-Studie sogar gezeigt, dass es eine negative Korrelation zwischen der Nutzung von Software und Kommunikationstechnologie in der Schule sowie dem Lernerfolg gibt: Je mehr Technologie benutzt wurde, desto schlechter schnitten die Schüler im PISA-Vergleich ab. Eine interessante  Beobachtung ist schließlich, dass gerade im kalifornischen Silicon Valley die Waldorfschulen großen Zulauf haben, die ausdrücklich keine Computer einsetzen. Offenbar verstehen insbesondere Manager von Computerfirmen, dass neue Technologie selbstverständlich ihren Platz hat, aber dass dieser Platz nicht notwendigerweise das Klassenzimmer ist. 
Das klingt technikfeindlich …
Ist es aber nicht. Gerade die Bildungsverlage sind ausgesprochen fortschrittlich, was die Entwicklung von Software und die Verwendung neuer technischer Geräte angeht. Aber im kalten Licht der Ergebnisse zeigt sich, dass wir noch sehr viel über die Wirkungen neuer Technologie im Schulbereich lernen müssen, bevor wir wissen, wo sie sinnvoll eingesetzt werden kann und welche Probleme sie besser löst als andere, weniger teure Ansätze. Das Ziel darf nicht eine Verteufelung von neuen Technologien oder „Open Educational Resources“ sein, sondern eine differenzierte Betrachtungsweise.
Wo ist der Rückgriff auf „Open Educational Resources“ denn sinnvoll?
Als ergänzende Lernmittel neben den Schulbüchern haben freie Inhalte, die zum Beispiel als Fotokopien an die Schüler verteilt werden, ohnehin einen festen Platz im Schulalltag. Abgesehen davon spielen „Open Educational Resources“ immer schon dort eine wichtige Rolle, wo es keinen funktionierenden Markt für Bildungsinhalte gibt. Das ist zum einen in den ärmsten unterentwi­ckelten Ländern der Welt der Fall, in denen es schlicht keine verfügbaren Mittel für Bildungsinhalte und keine Verlagslandschaft gibt. Zum anderen gibt es auch in entwickelten Ländern exotische Schulfächer, in denen die Schülerzahlen einfach zu klein sind, als dass ein Lehrmittelmarkt entstehen könnte.
Und was können die Verlage gegen Initiativen tun, die nicht sinnvoll sind?
Wenn man sich zum Beispiel die aktuellen Stellungnahmen der EU und der OECD zum Thema „Open Educational Resources“ anschaut, offenbaren sie ein erschreckendes Unverständnis, was gute Lerninhalte ausmacht und wie sie entwickelt werden. Das wichtigste ist und bleibt deshalb, Politikern und Öffentlichkeit klarzumachen, was in den Verlagen geleistet wird, wie viele Experten dort arbeiten, wie viele Gespräche mit Lehrern sie führen und wie viel Arbeit in einem guten Schulbuch steckt. Da haben die Verlage in den vergangenen Jahren ihr Licht zu sehr unter den Scheffel gestellt.
Interview: David Wengenroth

Kommentare

1 Kommentar zu "Wettbewerb um Qualität versus Friss oder stirb"

  1. Wo steht geschrieben, dass Schulbuchentwicklung für alle Zeiten am besten durch den Verkauf einzelner Bücher finanziert werden kann? Auch jetzt schon spielt der Staat als globaler Finanzier von Schulbüchern doch die größte Rolle. Aus vielen guten Gründen ist die aktuelle Politik der Verlage für diese selbst vielleicht naheliegend zweckmäßig, aber nicht für alle Kundengruppen.

    Als Eltern darf man z.B. nicht das privat angelegte Vokabeltraining zum Nutzen aller veröffentlichen, das ja praktischerweise auf die Reihenfolge eines Lehrbuches abhebt und dessen vermeintlich schutzwürdige eigene Belange berührt. Digitalisierung führt zu noch anderen Qualitäten als Kopieren.

    Wo steht denn geschrieben, dass im Verhältnis zum traditionellen Schulbuch die OER-Produkte nur online sind, deren Produktion unbedingt ohne Verlage auskommen will und auch nichts kosten darf?

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