Dieser Artikel ist zuerst erschienen im buchreport.magazin 10/2019.
Donnerstagnachmittag, Berlin-Tegel, die Sonne brennt.
Ich sitze, wie an 120 von 365 Tagen in den vergangenen Jahren, auf dem Weg von irgendwo nach ebenda in chiropraktisch bedenklicher Haltung an einem Schreibtisch-Surrogat. Meist erdnussgroß, häufig wackelig, immer öffentlich. Klapp- und Speisewagentische. Die eigenen Knie. Hotelsekretäre. Jetzt gerade ein Plastikbrett einer Boeing 319, Reihe 9. Bei jedem Buchstaben, den ich anschlage, vibrieren seine dünnen Ärmchen. Ich schreibe ein EWC-Statement, an Ursula von der Leyen. Probe Überschriften. „Kultur ist kein politisches Accessoire“, hm, zu negativ. „Culture: not found“, smart, so smart, dass es kein Mensch versteht. Mitunter verbrennen meine Ehrenämter beim EWC, beim VS, der VG Wort 80% meiner Wachzeit. Von Arbeitszeit rede ich seit 27 Jahren nicht mehr. Ich lebe, um zu schreiben. Es ist mein Leben, keine Arbeit, die ich je wechseln oder kündigen könnte. Es gibt keine geregelten „Arbeitszeiten“. An Romanen schreibe ich im Winter und im Sommer und überarbeite auf Reisen. Frühjahr und Herbst gehören der Politik. Politik! Wollte ich eigentlich nie rein. Dieses Geschäft, in dem man die Ideale gegen Kompromisse tauscht. Nie gewinnt. Aber verliert, wenn man stillhält.
Ich will nicht stillhalten. Ich brenne. Für Literatur, für die Grundlage von Zivilisation, Gemeinschaft und Diversität. Es will mir nicht in den Kopf, wie gleichgültig und gehetzt Politik, ethisch fragwürdige Monopolisten und mitunter meine geliebte Branche all das aufs Spiel setzt. Mein Berliner Schreibtisch ist deswegen der „politische Tisch“. Ich kürze das Wort. Jetzt steht da: „Polittisch.“ Albern, aber ich lass das jetzt so. Vor mir dreht sich die Reisende aus Reihe 8 um. Ich tippe zu heftig. Ihr Sitz wackelt. – Sinkflug.
Freitagfrühabend, London, Regen.
British Airways, Reihe 2. Der Klapptisch zittert. Mein Mann sagt, er wisse genau, wenn ich wütend sei. Dann würde ich so martialisch auf die Tastatur einschlagen, er könne das problemlos zwei Zimmer weiter hören. Ein Grund, weswegen ich eine Lederunterlage auf dem Polittisch habe, lang habe ich nach so einem altmodischen Phileas-Fogg-Exemplar gesucht. Ich mag es, wenn nützliche Dinge schön sind. In den Schubladen die Buchhaltung – ganz klassisch: Schublade auf, Beleg rein, drei Monate später greinend ordnen.
Wie immer kurz vor dem Start fragte ich mich, ob ich genug gelebt habe. Genug geschrieben, gestritten, geliebt, gelacht, getanzt und gesagt, was zu sagen nötig schien. Ob ich mich ausreichend lächerlich gemacht habe und es mir egal war. So, wie man das Leben denken muss. Immer der vorsorgliche Abschied vom Leben, bei jedem Grollen der Motoren.
Dieser Vorrats-Abschied bringt mich zu meinem Schreibtisch der Bretagne. An ihm entstanden drei Romane, das „Traumbuch“, „Die Schönheit der Nacht“, „Südlichter“. Ich esse, schreibe, weine, lache und verzweifele an ihm. Soziale Kontakte? Haushalt? Haare kämmen? Wozu? Der poetische, der Rückzugstisch also, das ist der wahre „Schreib-Tisch“, an dem ich die Schicksalsgöttin bin. Stilecht mit Besuchskatze Minette, die natürlich erst mal über alles drüberlatschen muss und mir fürs Foto den Streifen-Hintern zeigt.
Samstagmittag, Prag, bewölkt.
Der Laptop balanciert auf den Knien, eine halbe Stunde vor dem Board Meeting des European Writers’ Council. Um mich herum saugt die Frühschicht des Hotels den verkrümelten Boden.
Meine Schreibtische sind Bleibtische. Sie sind Sehnsuchtsorte. Kampfplätze. Orte der Literatur-Alchemie. Des Widerstands. Der Poesie. Meine stillen, geduldigen Orte der Revolution, und mir bleibt nur dies eine Leben.
Berlin. Am Polittisch.
Ich drucke die nächste Bordkarte aus. Und setze den letzten Punkt.
Nina George
Die 1973 geborene Knaur-Autorin gehört zu den bekanntesten Gesichtern der Buchbranche. Ihr schriftstellerisches Portfolio umfasst Romane, Essays, Reportagen, Kurzgeschichten und Kolumnen. Auch international feiert Nina George Erfolge: „Das Lavendelzimmer“ konnte sich u.a. in den Top Ten der „New York Times“-Bestsellerliste platzieren sowie in den Ranglisten in England, Australien, Polen, Israel, Griechenland und Italien. Die Rechte an drei weiteren Romane sind ins Ausland verkauft worden. 2020/21 erscheint „Die Schönheit der Nacht“ in Großbritannien und den USA.
Mit ihrem Ehemann Jens Johannes Kramer schreibt sie unter dem Doppel-Pseudonym „Jean Bagnol“ Provenceromane. Bisher sind drei Bände erschienen.
Nina Georges politisches Engangement ist mannigfaltig:
- Präsidentin des European Writers’ Council (EWC), dem europäischen Dachverband von derzeit 38 Schriftsteller- Innen- und ÜbersetzerInnen-Verbänden
- Beirätin des PEN-Präsidiums und Beauftragte des Women Writers Committees des PEN-Zentrums Deutschland
- Vertreterin des Schriftstellerverbands VS im Fachausschuss Urheberrecht im Deutschen Kulturrat
- Delegierte des VS im EWC seit Juni 2019
- Mitglied des Verwaltungsrats der VG Wort
- Vorsitzende der von ihr gegründeten AG E-Book
2011 gründete sie die Initiative „JA zum Urheberrecht“, 2014 die Informationsplattform „Fairer Buchmarkt“.
Dieser Artikel ist zuerst erschienen im buchreport.magazin 10/2019.
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