Morgen, am 31. Oktober 2017 wird es 500 Jahre her sein, dass der Augustinermönch Martin Luther seine 95 Thesen gegen den Ablasshandel an die Tür der Schlosskirche zu Wittenberg geschlagen haben soll und damit das Reformationszeitalter einläutete. Um das Jubiläum gebührend zu feiern, ist von der Evangelischen Kirche in Deutschland bereits 2008 die Lutherdekade ausgerufen worden: Landesweit gab es Ausstellungen, Konzerte und Tagungen mit jährlich wechselndem Themenschwerpunkt.
Die Buchbranche hat parallel dazu etliche Novitäten auf den Markt gebracht: Eine „revidierte Lutherbibel 2017“ (Deutsche Bibelgesellschaft) soll die kernige Sprache des Reformators wieder zu Gehör bringen und auch die Sachbuch-Produzenten waren rührig: Das Spektrum reicht von Biografien über Debattenbücher bis hin zu historischen Gesamtdarstellungen des Reformationszeitalters.
Eine neue Biografie hat Willi Winkler vorgelegt: „Luther. Ein deutscher Rebell“, ist 2016 bei Rowohlt Berlin erschienen und hat es auch auf die SPIEGEL-Bestsellerliste geschafft. Das folgende Interview hat buchreport mit Winkler zum Erscheinen des Buches geführt.
Wozu eine neue Luther-Biografie?
In den vergangenen Jahrzehnten hat man sich mit vielen Einzelaspekten beschäftigt: War Luther nicht in Wirklichkeit doch Katholik? War Luther ein Frauenverächter? Luther, der Antisemit, der Fürstenknecht, Luther gestern und heute. Aber eine umfassende historische Darstellung, die Luther als Kind seiner Zeit zeigt, gibt es nicht. Wer weiß schon, dass Kaiser Maximilian in dem Jahr, als Luther nach Rom gereist ist, den Papst stürzen und selber Papst werden wollte? Das ist nur ein Beispiel für die vollkommene Verweltlichung der Religion, gegen die Luther mit seiner Spiritualität angetreten ist. Zugleich regt sich um 1500 ein antirömisches, deutsches Nationalbewusstsein, ohne das sich Luthers Lehre nicht hätte durchsetzen lassen. Luthers Erfolg war ein Zufall und dennoch ein Ergebnis der Zeitumstände.
Gibt es neue Erkenntnisse?
Es gibt kaum jemanden, der gründlicher erforscht ist als Martin Luther. Ich arbeite den wirtschaftlichen Aspekt der Reformation deutlicher heraus, als dies bislang geschehen ist. Wer kann sich heute noch vorstellen, dass diese extrem fromme Zeit gleichzeitig die geldgierigste Zeit der Menschheitsgeschichte war? Der Kapitalismus wurde gerade erst erfunden und in diesem Zusammenhang wurde auch der Glaube kommerzialisiert. Luthers Abscheu vor dem Geld trieb ihn zum Kampf gegen den Ablass.
Was war Luthers wichtigste Leistung?
Martin Luther hat die Menschheit befreit. Heute ist das nur noch schwer nachvollziehbar, aber im 16. Jahrhundert lebte man in einer Welt, in der die Syphilis grassierte, in der ständig Krieg drohte und in der 95% der Bevölkerung rechtlos waren. Dazu kam die Angst, nach dem Tod ungespitzt in die Hölle zu fahren. Luther war der große Befreier, weil er den Menschen die Angst nehmen konnte, unter der er selber am meisten litt.
Was hat Luther uns heute noch zu sagen?
Die Zeit, in der Luther gelebt hat, könnte uns fremder nicht sein, deshalb ist es nicht möglich, hier einfache Linien in die Gegenwart zu ziehen. Luthers Leben lässt sich deshalb nur historisch rekonstruieren, aber das ist doch schon interessant genug.
In der aktuellen Auseinandersetzung mit Luther wird besonders sein Antisemitismus hervorgehoben. Wie erklären Sie diese dunkle Seite des Reformators?
Diese Seite sollte auf keinen Fall kleingeredet werden, denn diese Einstellung war kein Exklusivdefekt von Luther, sondern typisch für seine Zeit und nicht nur dafür. Die Christen haben die Juden noch bis vor Kurzem als Christusmörder betrachtet und diese antijudaistischen Bestandteile erst in der Aufarbeitung des Holocaust revidiert.
Die Fragen stellte Nicole Stöcker. Das Interview ist zuerst erschienen im buchreport.magazin 7-8/2016.
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