Die Digitalisierung setzt nicht nur Verlage und Buchhändler, sondern auch die Bibliotheken unter Druck. Wie öffentliche und wissenschaftliche Bibliotheken dem Wandel begegnen, erläutert Stefan Gradmann (Foto), Professor für Bibliotheks- und Informationswissenschaft, im Interview mit buchreport.de.
Digitale Informationen sind nicht mehr ortsgebunden. Werden Bibliotheken obsolet?
Es heißt ja: Das Internet ist die digitale Bibliothek. Ganz so einfach ist es aber nicht. Zwar ist die Bibliothek mit der schwindenden Prominenz des gedruckten Mediums immer weniger erforderlich für den Zugang zu Informationen, doch eine gute Bibliothek ist auch als sozialer Treffpunkt bedeutend, etwa um gemeinsam zu arbeiten. Das könnte für viele Bibliotheken eine Überlebensformel sein.
Wie verändert sich die Rolle der Bibliotheken?
Jahrhundertelang haben Bibliotheken ausgefeilte Regelwerke ersonnen, um das Äußere von Büchern zu beschreiben, statt sich mit Inhalten zu beschäftigen. Das muss sich ändern. Heutzutage werden wir mit Informationen überschüttet, die wir kaum filtern können. Im wissenschaftlichen Bereich brauchen wir Dienstleister, die Informationen aggregieren, selektieren, aufbereiten und das Ergebnis ortsungebunden im Internet bereitstellen. Damit entsteht für wissenschaftliche Bibliotheken zunehmend die Option der thematischen Spezialisierung. Da die Daten global verfügbar sind, werden andere, nicht spezialisierte Bibliotheken überflüssig.
Gilt das auch für öffentliche Bibliotheken?
Nein, da sie vorwiegend diejenigen bedienen, die sich den Zugang zu Informationen vor Ort nicht leisten können. Die wichtigste Zielgruppe der öffentlichen Bibliotheken sind Kinder, die dort Informationstechniken lernen und Zugang zu Büchern erhalten. Dies ist im digitalen Zeitalter wichtiger denn je.
Müssen sich Bibliothekare vom Buch lösen?
Ja, dies beginnt bereits bei Begrifflichkeiten, die vom Leitmedium Buch geprägt sind, beispielsweise Katalog oder Bestand. Doch auch die Beziehung zum Nutzer verändert sich grundlegend: Der Wissenschaftler geht nicht mehr in die Bibliothek, weil dort die Bücher stehen. Die Bibliothek muss aktiv auf ihn zugehen und ihn bei der Verarbeitung von Informationen in seinem Kontext unterstützen.
Eine Aufgabe, die auch andere erfüllen…
Ein Verdrängungswettbewerb lässt sich nicht leugnen oder gar aufhalten – weder zwischen noch innerhalb der Sparten Handel, Verlag und Bibliothek. Der Kuchen wird immer kleiner. Mit Sorge beobachte ich, dass auch immer mehr Fremdanbieter in den Markt drängen. So ist Google in der Lage, Bibliotheken überflüssig zu machen, über Google Books, eine semantische Suche und weitere Dienste.
Wie wird sich das E-Book weiterentwickeln?
Ich bin mir nicht sicher, wie lange das seltsame Konstrukt E-Book noch überlebt. Noch ist es stark abgeleitet von der analogen Form. Die Einheit Buch wird sich mehr und mehr auflösen. Künftig werden wir Informationen granularer nutzen und abrechnen.
Die Fragen stellte Lucy Mindnich
Stefan Gradmann
ist Professor am Institut für Bibliotheks- und Informationswissenschaft der Humboldt-Universität in Berlin. Er beschäftigt sich insbesondere mit der Zukunft der Bibliotheken im digitalen Zeitalter und semantisch basierten Technologien.
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