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Zukunft bedeutet Interaktion

„Von Bildung und Erziehung wird es wesentlich abhängen, ob die heranwachsenden Generationen den Ansprüchen, Herausforderungen und Belastungen gewachsen sein werden, mit denen sie in der Welt von morgen konfrontiert werden. Dies gilt für Kinder und Jugendliche, auch für die Familie in gleicher Weise.“ Der Leitsatz von Wassilios E. Fthenakis, im Jahr 2000 formuliert, besitzt heute, inmitten des Umbruchs der Bildungssysteme, mehr Gültigkeit denn je. Nachdem die Politik auf den dringenden Reformbedarf der Bildungssysteme reagiert, ist Fthenakis nicht mehr nur in Lehre und Forschung gefragt, sondern auch bei den Entscheidern in Berlin. Der Autor mehrerer Pädagogik-Bücher und Sachverständige des Bundesverfassungsgerichts in Familienfragen wurde jüngst auf der 59. Jahreshauptversammlung des Didacta-Verbandes der Bildungswirtschaft von den Verbandsmitgliedern einstimmig für zwei weitere Jahre im Amt bestätigt.

Welches sind die zentralen Herausforderungen, vor denen das Bildungssystem steht?
Die größte Herausforderung ist die Anpassung der Bildungsinhalte der Industriegesellschaft an die Bedürfnisse einer Wissensgesellschaft. Die Bildungssysteme sind organisiert worden auf der Grundlage der Extrahierung und Weitergabe von Wissen. Das Bildungssystem hatte den Auftrag der Wissensvermittlung und leistete damit auch einen Beitrag zur sozialen Gerechtigkeit: In der alten Industriegesellschaft sollte jedes Kind faire Chancen bekommen.

Diese Situation hat sich verändert. Das Wissen und dessen Vermittlung ist nicht mehr die Legitimationsgrundlage für das Bildungssystem. Das Bildungssystem hat die Kinder auf eine tiefgreifend gewandelte Gesellschaft vorzubereiten, die nicht mehr auf Wissenserwerb und Faktenvermittlung aufbaut, sondern auf der Stärkung von kindlichen Kompetenzen. Zudem muss das Bildungssystem die Kinder sensibilisieren und vorbereiten auf eine kulturell diverse und sozial komplex gewordene Welt, auf eine Welt, die durch Diskontinuitäten gekennzeichnet ist, auf eine globalisierte Welt, die von den Kindern und damit auch vom Bildungssystem völlig veränderte Kompetenzen erwartet. Das heißt, sowohl das Individuum als auch das Bildungssystem müssen sich auf veränderte Anforderungen einrichten.

Wann muss Bildung heute einsetzen?
Wenn es um die Stärkung kindlicher Entwicklung geht, dann muss man zur Kenntnis nehmen, dass diese Kompetenzen sich früh etablieren. Dafür ist das vorschulische Alter und weitestgehend noch die Grundschule die Ebene, auf der man etwas erreichen kann. Vor diesem Hintergrund muss der Stellenwert der vorschulischen und schulischen Bildung völlig neu bewertet werden. Es ist der Zeitraum, in dem sich Bildungsinvestitionen rentieren, weil sich während dieser Zeit die in Zunkunft gefragten Kompetenzen etablieren.

Was genau muss geändert werden?
Um Kompetenzen zu stärken, muss ein anderes Bildungsmodell und ein anderes Verständnis von Bildung herangezogen werden: Nicht dem einzelnen Kind dürfen die Bildungsprozesse überlassen werden, sondern Bildung mus sich im Dialog mit anderen Kindern, mit Fachkräften und mit den Eltern entwickeln.
Wir brauchen anstelle der Selbstentfaltungstheorien des Kindergartens und der sogenannten exogenistischen Theorien der Grundschule jetzt interaktive Theorien, demzufolge Bildung das Produkt des Dialogs, der Kommunikation und der Interaktion mit anderen ist. Das verändert die Bildungsziele, die Bildungsorganisation und den Bildungsverlauf.

Was ist in der Vergangenheit falsch gemacht worden?
Ich will zwei Beispiele nennen: Das eine ist, dass das schulische Bildungssystem aufgebaut wurde wie ein Hochhaus, für dessen Stockwerke verschiedene Architekten zuständig waren. Jeder Architekt hat sich in jedem Stockwerk verwirklicht, aber alle miteinander haben die Verbindungstreppen vergessen. Das heißt, das System ist nicht konsistent, und nicht konsistente Systeme erzeugen bekanntlich auch keine gute Qualität.

Und das zweite Beispiel?
Das zweite ist, dass wir lernen müssen, nicht nur früh zu investieren, sondern auch früh den Bildungsprozess zu individualisieren. Wenn es uns nicht gelingt, im vorschulischen und schulischen Grundschulalter den Bildungsprozess zu individualisieren, helfen die überdurchschnittlichen Investitionen danach nicht viel, das hat die Vergangenheit gezeigt. Zudem muss diese Individualisierung gleichzeitig mit den höchsten Chancen der Integration verbunden werden. Wir wissen alle, dass Integration – etwa kulturelle Integration, soziale Integration – am besten im vorschulischen Alter gelingen kann, im Grundschulalter bietet sich noch eine zweite Chance. Danach ist mit sehr hohem Aufwand nur wenig zu erreichen.

Sind die Fachkräfte im Bildungssystem vorbereitet? Ist die Bildungswirtschaft für die Professionalisierung der frühkindlichen Bildung gerüstet?
Die Bildungswirtschaft hat als eine der ersten Institutionen auf diese notwendigen Änderungen hingewiesen. Sie ist auch dabei, die benötigten Materialien zu entwickeln. Sie leistet auch den größten Beitrag zur Professionalisierung der Fachkräfte, zur Vorbereitung dieser Fachkräfte auf ein verändertes Bildungsmodell. Zudem kooperiert die Bildungswirtschaft mit anderen Institutionen, die am gleichen Strang ziehen, wie die Deutsche Telekom Stiftung und das „Haus der Kleinen Forscher“ in Berlin. Das sind miteinander verbundene Partner, die alle ein gemeinsames Anliegen vorantreiben wollen, nämlich ein neues Verständnis von Bildung zu erreichen.

Wo sehen Sie Schwachstellen in der Bildungswirtschaft?
Wie gesagt, die Bildungswirtschaft muss auf die Interaktion fokussiert werden. Das heißt, alle Produkte auf dem Markt müssen weiterentwickelt werden und fit gemacht werden für die Beziehung zu anderen, für die Kommunikation mit anderen. Aber das Bildungssystem muss sich ändern, nicht so sehr
die Bildungswirtschaft. Dieser Wirt- schaftszweig ist ein sehr flexibler und kompetenter Partner des Bildungssystems.

Was will der Didacta-Verband leisten, um diese Diskussion mitzugestalten?  
Wir haben unser Selbstverständnis verändert und uns zu einem Bildungsverband entwickelt, der zu einem Gesprächspartner der Politik in Sachen Bildung und Weiterentwicklung des Bildungssystems geworden ist. Die Instrumente des Verbands sind vielfältig. Das „Didacta-Magazin“ für lebenslanges Lernen ist das einzige und erste Magazin, was bundesweit auf lebenslang orientierte Bildungsprozesse fokussiert. Mit der „KinderZeit“ erreichen wir alle Kindergärten und bald auch alle Grundschulen bundesweit. Drittens bieten wir mehr als 1200 hoch qualifizierte Seminare für die Fortbildung an, veranstalten außerdem die größte Messe Europas und entwickeln momentan unser Profil weiter in Richtung eines globalen Ansatzes. Wir werden in Bangkok, in Peking, in Dubai, in Hanoi und an vielen anderen Plätzen die Bildungswirtschaft voranbringen. Nicht zuletzt wollen wir mit den Bundesländern – angefangen mit Nordrhein-Westfalen und der Kultusministerin Barbara Sommer, dann mit dem Freistaat Bayern mit dem Minister Siegfried Schneider – im nächsten Jahr die bilateralen Seminare mit den Ländern verstärken.

Man hört, dass auch an einen Preis als weiterer Anreiz für die Länder gedacht wird?
Ja. Mit einem Award wollen wir innovative Ansätze aus den Bundesländern prämieren. Er soll in die Landschaft der bundesrepublikanischen föderalen Struktur eingeführt werden. Dieses neueste Instrument soll ab dem nächsten Jahr seine Wirkung entfalten.

Wie soll der Award heißen?
Das steht noch nicht fest, wir sind noch in der Planungsphase.

Die Fragen stellte Helge Rehbein

Zur Person: Wassilios Emmanuel Fthenakis,
1937 in Kilkis geboren, studierte in Griechenland Pädagogik, anschließend Anthropologie, Human- und Molekulargenetik sowie Psychologie in München, wo er 1967 zum Dr. rer. nat. und 1969 zum Dr. phil. promovierte und sich 1986 im Fach Sozialanthropologie habilitierte. Nach Stationen als Direktor des Staatsinstituts für Frühpädagogik (München), Professuren für angewandte Entwicklungspsychologie und Anthropologie (Augsburg/Bozen) wurde Fthenakis 2006 zum Präsidenten des Didacta-Verbandes gewählt. Er ist Träger des Bundesverdienstkreuzes 1. Klasse der Bundesrepublik Deutschland. 

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