Die Auflagenplanung für Bücher der zweiten Reihe ist schwierig. Mit den richtigen Daten gefüttert kann ein Diffusionsmodell Orientierung stiften. Im Test kalkulierten Hamburger Wissenschaftler besser als Vertriebsmanager. Der Medienmanagement-Professor Michel Clement im Interview.
Die Lager sind voll: Zu optimistisch kalkulierte Auflagen plus Remittenden aus dem Handel sorgen für Palettentürme mit Büchern. Andererseits kommt es bei gut nachgefragten Titeln auch schon mal zu Lieferengpässen, so geschehen auch im vergangenen Jahr bei einer ganzen Reihe der aktuellen Jahresbestseller. Die treffgenaue Planung von Druckauflagen ist ausgesprochen fehleranfällig. Die Prognosen erfolgen aus Erfahrung, also mithilfe der Verkaufszahlen vergleichbarer Bücher und viel Bauchgefühl. Für Vertriebler enthält die Auflagenspekulation so je nach Mentalität Frustpotenzial oder Glücksspiel-Kitzel.
Michel Clement, Hamburger Professor für Marketing und Medienmanagement, hat jetzt untersucht, ob Diffusionsmodelle für den Produktabsatz auch bei Medienprodukten dem Marketing- und Vertriebsmanagement in Verlagen bei ihrer Auflagenkalkulation helfen können. Im buchreport-Gespräch erklärt der Medienmanagement-Professor Möglichkeiten und Grenzen des Ansatzes.
Zum Grundverständnis: Was kann die Diffusionsforschung?
Die Diffusionsforschung modelliert den Absatz über die Zeit, also den Verkaufsverlauf. Im zweiten Schritt wird dann versucht, zu klären, was den Verkaufsverlauf in den jeweiligen Wochen treibt. Wir sagen den Verlauf anhand einer Reihe von Einflussvariablen vorher.
Wie unterscheidet sich die Diffusion der Medienprodukte von anderen Konsumgütern?
Der Absatz der meisten Produkte entwickelt sich langsam und es dauert, bis das Absatzmaximum erreicht ist. Medienprodukte wie Musik oder Filme im Kino haben in der Regel in den ersten Wochen den höchsten Absatz. Bei den meisten Büchern ist das ebenso…
…augenfällig bei den Erstverkaufstagen von „Harry Potter“ …
… aber in der Regel vollzieht sich der Absatzverlauf bei Büchern länger und läuft auch über mehrere Monate oder auch schon mal ein Jahr mit immer noch substanziellen Absatzzahlen. Das liegt daran, dass man Bücher nicht so schnell wie Musik oder einen Film konsumieren kann. Der Druck, ein Buch schnell haben zu wollen, ist deshalb nicht so groß, weil man vielleicht gar nicht so viel Zeit hat, um es sofort zu lesen. Auch echte, aus der selbstständigen Lektüre erwachsende Mund-zu-Mund-Propaganda entwickelt sich entsprechend langsamer. Es gibt natürlich auch PR-Effekte wie bei Sarrazin, da reden viele mit, ohne es gelesen zu haben.
Sind Bücher deshalb im Medienbereich am schwierigsten zu prognostizieren?
Ja, weil der Absatzverlauf am wenigsten gradlinig verläuft. Wir haben einen stark variierenden Absatz über die Zeit und keine wunderschöne gerade Kurve.
Warum ist es grundsätzlich so schwierig, zutreffende Verkaufsprognosen zu machen?
Nicht nur die Medienindustrie, sondern beispielsweise auch die Lebensmittelbranche produziert eine Un-menge von Flops. Bei Büchern ist die extrem große Zahl von Neuerscheinungen die Herausforderung. Die zahlreichen Novitäten bilden für jeden Titel ein gigantisches Wettbewerbsumfeld und die Verleger haben relativ wenig Geld, um einzelne Titel werblich herauszustellen. Hinzu kommt: Es gibt wenige Stars. Die zu prognostizieren ist vergleichsweise einfach und das beherrschen die Verlage auch gut, aber umso schwieriger ist es, die wenig bekannten Autoren vorherzusagen.
Sie haben konventionell erstellte Auflagenpläne aus einem Verlag mit Ihren Berechnungen verglichen. Wem sollte ein Verlag eher vertrauen: Seinen Vertriebsexperten oder Ihrer Formel?
Auch wenn wir mit unserem Tool ordentliche Ergebnisse erzielen, geht es hier nicht um einen Wettbewerb und ein Entweder-oder. Man vergleicht die Vorhersage aus unserer Formel mit der Auflagenplanung im Unternehmen. Wenn das nicht zusammenpasst, fängt man an, zu diskutieren. Schon dadurch wird der Planungsprozess fundierter.
Lassen sich Fehlinvestitionen und volle Lager reduzieren?
Ja, ich glaube, wenn man einen rationaleren Planungsprozess durchlaufen würde, kommt man zu geringeren Produktions- und Lagerkosten. Nicht, weil unser Modell so gut ist, denn das kann auch mal falsch liegen. Der Punkt ist, dass man rationaler in die Planung einsteigt und die Diskussion sich dadurch verändert und es so gelingt, die Planzahlen von den Zielzahlen zu lösen. Nicht selten sind die Zielzahlen das Problem, weil es bestimmte Vorgaben gibt, weil man etwa in einen Titel einen bestimmten Betrag investiert hat und damit eine Umsatzzahl verbindet. Das ist deutlich bei Film und Musik zu beobachten, trifft tendenziell aber auch für den Buchverlagsbereich zu. So kommen unrealistische Planzahlen zustande, was zusätzliche Kosten verursacht. Unser Modell führt in der Regel zu niedrigeren Planzahlen, die sich bei den meisten Titeln als realistischer erweisen.
Der komplette Artikel mit Details aus der Studie ist im buchreport.magazin 1/2011 nachzulesen.
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